7. Mai 2012

Kritik und Vorurteil


Übersetzt hat den Roman von Camille de Peretti übrigens Hinrich Schmidt-Henkel. Er ist nicht nur ein bekannter und geschätzter Literaturübersetzer aus dem Französischen, sondern auch der Vorsitzende des Verbands deutscher Literaturübersetzer (VDÜ). Ich muss daran denken, dass seinerzeit, als „Nous vieillirons ensemble“ auf deutsch erschien, ein Literaturkritiker mir gegenüber äußerte, wie froh er gewesen sei, in einer Rezension eine Kritik am Übersetzer  gelesen zu haben. Der Rezensent hatte eigentlich gar nicht wirklich Kritik geübt, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass eine gewisse Schwäche im Text eventuell auf den Übersetzer zurückzuführen sei. Natürlich hatte er dies nicht überprüft. Um das deutsche Buch mit dem Original zu vergleichen hätte er mindestens des Französischen mächtig sein müssen. Nebenbei hätte er zwei Bücher statt einem und dann beide im Vergleich lesen müssen. Beim derzeitigen Preis einer Feuilletonrezension ein reichlich wahnwitziger Gedanke – der eher in die Richtung weist, in der etliche Literaturübersetzerinnen zu suchen sind, nämlich in der Abhängigkeit eines verdienenden Ehepartners. Auch die Übersetzungskritik wäre heute also ein schönes „Hobby für Hausfrauen und -männer“. De Facto gibt es aber einfach keine. Also keine Übersetzungskritik. Wenn mal ein wohlwollender Satz über die Übersetzerin fällt, kann man froh sein. – Jedenfalls: Der Rezensent hatte die Überlegung geäußert, es könne, eventuell, so sein, dass der Übersetzer schwache Stellen produziert habe. Dass die sprachliche Schwäche des Buches also gar nicht der Autorin anzulasten sei. Und der Literaturkritiker sagte mir erfreut: „Wie schön, dass dieser Hinrich Schmidt-Henkel mal kritisiert wird! Der gilt doch unter Übersetzern als unantastbar.“ Aha, dachte ich für mich: Wenn keine Kritik zu hören ist, ist das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Kritik angebracht wäre. (Ein schöner Gedankengang.)

Überhaupt seien Literaturübersetzer ja ein kritikwürdiges Völkchen, redete er sich ein wenig in Rage, scheinbar froh, endlich mal allen Frust über diese enorm einflussreiche, massenhaft auftretende und ob ihrer privilegierten Stellung nur zu beneidende Gruppe ablassen zu können. Da gönne niemand dem anderen etwas. Jeder wolle es immer besser übersetzt haben können als der, der es tatsächlich übersetzt hat. Und überhaupt bildeten sie sich ja auch noch ein, die Übersetzung, die sie geschrieben hätten, sei „ihr Text“. Frechheit, dachte ich! Die Schwächen eines Textes werden, ohne dass man es überhaupt prüfen könnte, dem Übersetzer anvermutet und dann bildet dieser sich auch noch ein, es handle sich bei dem verpfuschten deutschen Text um seinen eigenen. (Aha.)

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