10. Mai 2011

Das weitläufige Übungsgelände des Tohuwabohu


Leute, die mir doch eine Zeit lang vertrauenserweckend erschienen, beschweren sich über den Preis eines rosanen Buches ("und es ist ja nicht mal gebunden!"), das es bei Matthes&Seitz zu kaufen gibt. 14 Euro noch was ("und es ist ja nicht einmal dick!"). Verleger, Drucker, Autoren, Setzer und die ganze Mischpoke müssen doch einfach ohne jede Scham sein, um für sowas sowas zu verlangen... Sagen mir die Leute. Dabei stellt Wolfgang Hegewald in seinem neuen Buch Die eigene Geschichte spielerisch den schmalen Korridor der Normalität in Frage - und dafür kann man schon mal das Geld für zwei günstige Pizzen hinlegen :

Ein Traum, der Hinweis auf das um ein Jahr verfrühte Datum der Millenniumsfeierlichkeiten, ein Bericht über die Weltverhinderungsmaßnahmen der Gummischutzzone DDR. – Hegewalds neuestes Buch ist ein Sammelsurium kurzer, gehaltvoller Textstücke. Ohne weiteren ersichtlichen Zusammenhang als den Untertitel – Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000 – steht die lang ersehnte Erklärung der Redewendung auf den Hund kommen neben dem Bericht, ein Amerikaner habe einen für schwul gehaltenen Pudel tot geprügelt. Hegewald kommentiert politische Extreme, die Religion und den sich oft so arg ernst nehmenden Kulturbetrieb, gibt wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besten und alltägliche Straßenszenen, sammelt kleine Denkwürdigkeiten, kritisiert Beschränktes.

Erster Orientierungslosigkeit folgt Euphorie ob der hinreißenden Sprache, in der der Autor unerwartete Weisheiten wie Nebensächlichkeiten äußert. Dem von ihm beschriebenen Lyriker Kannenwischer (ein Zerknirchungsvirtuose von Rang) nicht unähnlich, besticht auch er mit Herzlichkeit, immerfort neckisch Nein! nickend. Mal stellt sich angesichts eines Abschnitts Erkenntnis ein, mal Freude über eine bemerkenswerte Idee, über das Aufschnappen wissenschaftlicher Fakten, die meist den eigenen Intuitionen widersprechen („Blindsichtige“ nehmen wahr, ohne sich dessen bewusst zu sein, und deshalb „sehen“ sie nichts). Auch weniger Erstaunlichem vermag der Autor durch seine gewitzte Sprache etwas hinzuzufügen oder durch kleine Verschiebungen, seine ungesehene, oft widersprüchliche Seite zu entlocken. Scheinbar völlig klare Begriffe öffnen sich unter Hegewalds fragendem Blick. Charakterfoto? Lässt sich Musik aufhören? Und welche furchtbare DDRStaatspraxis verbirgt sich hinter verblitzen?

Doch wenn diese wunderbaren Dinge auch überwiegen, mehren sich mit den Seiten ebenfalls ernüchternde Aufzeichnungen von Erlebnissen, die einen nun gar nicht überraschen (Deutsche Zuggäste beschweren sich über Bahn und BRD? ach.). Und dass er sich unter den DDR-Begriffen gerade um das Verblitzen bemüht und nicht etwa um die doch viel gemütlichere und begrifflich entzückende Brauselimonade „Leninschweiß“, enthüllt eine Schwachstelle. Von Publikationsverbot getroffen und aus der DDR emigriert, ist ihm wohl nicht nach Beleuchtung etwaiger realexistierender DDR-Gemütlichkeiten. Hegewald kritisiert die DDR mit scheinbar nicht zu brechendem Enthusiasmus – ebenso wie ihr Bild im gesamtdeutschen linksliberalen Feuilleton. Bei all seiner wachen Kritik am Status Quo des Denkens schießt sich der Kämpfer für die Differenz und die verspielten Möglichkeiten
hier ein Eigentor. Seine Position wirkt starr. Jenseits ostalgischer Verklärung ist Kritik am Hergang der Wiedervereinigung angebracht – wie auch die Festellung, dass die Ekstase der ersten „Hallelujah-DMark“- Rufe ziemlich nachgelassen hat – und macht einen nicht, wie der Autor nahelegt, zum landsmannschaftlichen Revanchisten. Dabei pflegt Hegewald doch ansonsten eine so bemerkenswerte Taktik der Enttäuschung. Denn genau wie alles Wissen private Metaphorik ist, so ist auch Wahrnehmung immer schon Interpretation und muss hinterfragt werden.

So begeistert man von diesem kleinen Bändchen ist, man gewöhnt sich ein bisschen an seine Art des Ungewohnten. Nicht alles bleibt hängen, nicht alles hat philosophisches Potential, manches eignet sich einfach dazu, bei der nächsten Party ausgeplaudert zu werden (was ja auch sehr schön ist), aber die Beobachtungen Hegewalds erinnern dennoch an eine Aphorismensammlung, die man immer wieder – auch nur stückchenweise! – und vielleicht auch am Liebsten von hinten lesen kann. Vieles möchte man sofort notieren, weil es so gut gesagt, so aufmerksam gesehen ist. Und das Tolle dabei: Es ist
bereits notiert und man kann einfach wieder aufblättern.