6. Mai 2012

Altsein. Gebrauchsanweisung.

Gerade zufällig gesehen, dass Camille De Perettis "Wir werden zusammen alt" nun auch als Taschenbuch existiert. Darüber schrieb ich doch seinerzeit eine Schmähkritik! Manchmal fragt man sich wirklich, warum es bloß so viele Bücher gibt. Dabei wäre die ausweglose Leblosigkeit des Altenheims gute Bücher wert. 

 

„Geh nicht Ninotschka, in diesen Läden wartet nichts als der Tod, Einsamkeit, all diese alten Sonderlinge und grässlichen zahnlosen Weiber. Du wirst es nicht aushalten.“ Und sie hält es nicht aus. Die warnenden Worte der jungen französischen Autorin Camille de Peretti aus dem Mund des Alter Egos Camille ihres neuen Romans Wir werden zusammen alt gelten Nini. Und diese ist mittlerweile allen Warnungen zum Trotz im Altenheim Les Bégonias gelandet, langweilt sich dort zu Tode und stellt die Geduld der Menschen um sie herum dabei aus Sehnsucht nach Liebe und Leben auf eine harte Probe. „Es gibt so viel, das sie stört, da ist die Windel das geringste Problem. Sie wird nicht klingeln wie verrückt, sie will geduldig in ihrem Bett warten. Sie möchte nicht mehr sehen, wie die Leute seufzen und genervt gen Himmel blicken, wenn sie sie ruft. Sie würde alles geben, um nicht an ihrer eigenen Stelle zu sein.“ Wenige Seiten später, als Schlussakkord des Buches, stirbt diese Nini allein in ihrem Heimbett – der Notklingel an ihrem Bett hatte jemand aus Entnervung den Stecker gezogen.

De Peretti beschreibt einen Sonntag unter vielen in einem Altenheim unter vielen mit den dazugehörigen Bewohnern, Besuchern und Angestellten. Die Erzählung ist das Ergebnis gründlicher Recherchen der Autorin in verschiedenen Seniorenheimen. Protagonisten wie Geschichten und selbst die Farben beruhen auf realen Vorbildern. Sie selbst dient als Vorbild der Camille, der ihre Liebe zur alten Nini vergangen ist, die sie früher vergötterte. Es plagt sie das schlechte Gewissen, aber Ninis körperliche Verfassung und ihr ständiges Gekeife und Herumkommandieren macht jeden Besuch zu einer Qual, angesichts derer sie nur ans Fliehen denkt. An Fliehen denkt auch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der nach einigen fehlgeschlagenen Ausbruchsversuchen in erneuten Vorbereitungen steckt. Aber hier wie da gibt es keine Fluchtmöglichkeit. Das Heim kennzeichnet nicht nur sein Geruch, die Einsamkeit, die ständige Medikamentenzufuhr, die komplette Durchstrukturierung der Tage, die Abgabe jeglicher Selbstbestimmung, die raffgierigen Familien, das schlechte Gewissen, sondern auch seine Unentrinnbarkeit. Dreyfus wird immer wieder aufs Neue erwischt und zurückgeholt.
Und was Camille angeht, sie kann nur hingehen und es furchtbar finden oder nicht hingehen und sich selbst furchtbar finden. Somit steckt in Wir werden zusammen alt auch eine absurde, vollkommen nachvollziehbare Kritik am Altsein selbst. Obwohl viele Protagonisten ihre Großmütter, Mütter oder alten Bekannten lieben, – oder sie wenigstens lieben wollen – es scheint unmöglich ihnen das zu geben, was sie brauchen, will man nicht sein eigenes Leben aufgeben. Der Raum verengt sich mit dem Altwerden. Man kann immer weniger weit gehen. Die Augen werden beim Lesen immer schneller müde. Der Körper hält mit dem Wunsch nach Leben nicht mehr Schritt. Die Erinnerungen, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben, finden keine Entsprechung mehr im jetzigen Leben. Wenn man jemanden hat, dem man sie erzählen kann, ist das viel.

Vor wenigen Jahren erst sind während der ungewöhnlichen Hitzewelle 2003 in Frankreich über 10.000 Menschen gestorben – die meisten von ihnen Senioren, über die Hälfte in Heimen untergebracht. Im Anschluss schoben sich Bevölkerung und Regierung auf unterhaltsame Weise die Schuld in die Schuhe und beschuldigten sich gegenseitig grober Vernachlässigung. In der Tat starben viele Alte von ihrer Familie unbemerkt und einsam zuhause. In der Tat hatte die französische Regierung über Jahre hinweg am Pflege- und Gesundheitssystem derart gespart, dass die Altenheime in erbärmlichem Zustand waren – mancherorts kam eine Pflegeperson auf siebzig Pflegebedürftige. Eine Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen ist also durchaus angebracht. De Peretti hat diese für ihren Roman aber nicht im Sinn. Die wirklich erbärmlichen Umstände des Heimlebens lässt sie tatsächlich außen vor, sagt sie, wie beispielsweise die Tatsache, dass nach ungefähr sechs Wochen im Heim, 80% der Bewohner Windeln tragen, obwohl zuvor ebenso viele nicht inkontinent waren. Der Autorin geht es um die Darstellung alter Menschen. Die Darstellung schafft es aber leider über weite Strecken nicht, die Charaktere mit Leben zu füllen und dem Leser nahe zu bringen. Man versteht, was im Heim passiert – dabei handelt es sich ja nicht um neue Einsichten – aber es berührt nicht.
Was Andreas Dresen 2008 in seinem Film „Wolke 9“ hervorragend gelungen ist, nämlich darzustellen, dass zwei alte Menschen, die sich verlieben, sich genauso verlieben und miteinander ins Bett gehen, wie junge auch, gelingt Camille de Peretti nur bedingt. Zu Anfang des Romans erscheinen die Alten vielmehr allzu oft wie „alte Kinder“, die ernst zu nehmen schwer fällt und die vor allem „anders“ sind. Ihr Getratsche, ihr Buhlen um Zuneigung ist jedoch kein Charakteristikum hohen Alters, sondern existiert – so unangenehm mancher das finden mag – bei Personen jeden Alters und tritt natürlich geballt auf, sobald man geballt zusammengepfercht leben muss.

Während die Thematik auch Grund und Stoff für einen finsteren, gar sarkastischen Roman geboten hätte, bewegt sich de Perettis Erzählung leicht und gewissermaßen unverfänglich an der Oberfläche der Geschehnisse und Figuren – von den wenigen Ausnahmen gegen Ende abgesehen, die einem nahe gehen, bei denen es um erlebte Vergewaltigung in der Familie, den missglückten Ausbruchversuch von Dreyfus und den Tod Ninis geht.
De Perettis einfache und humoristische Sprache rettet den Roman nicht vor seiner schlussendlichen Belanglosigkeit. Auch das Formexperiment, das sich die Autorin, geprägt von ihrer eigenen Lektüre und gewissermaßen als Hommage an George Pérec von diesem entleiht, bleibt in dieser Variante banal. Wie Pérec, der Oulipo-Schriftsteller, der sich im Versuch, die Literatur Mathematik werden zu lassen, immer wieder neue Auflagen für sein Schreiben gesetzt hat, folgt de Peretti einem mathematischen Schema, um ihre Erzählung zu konstruieren. Einen seiner Romane schrieb Pérec ohne ein einziges E zu verwenden, einen anderen wiederum mit E als einzigem Vokal. De Peretti hat sich Das Leben. Gebrauchsanweisung zum Vorbild genommen, das Altenheim schachbrettartig in 64 Felder geteilt, um sich dann nach einem komplizierten – in ihrem Fall von einem Computer ausgerechneten – Muster im Modus des Springers eines Schachspiels von einem Zimmer zum nächsten vorzuarbeiten. Dass sie dies tut, fällt im Verlauf des Lesens keinesfalls auf, und der Witz der literarischen Herausforderung gebührt nun mal deren Erfinder.

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