20. Juni 2011

Deutsches Kulturgut wechselt den Moderator (Aha.)


Am vergangenen Samstag war der Showmaster Thomas Gottschalk vermutlich zum letzten Mal für eine Veranstaltung der allseits bekannten Sendung Wetten Dass? auf Mallorca verantwortlich. Als Redakteur kommt man daran in Deutschland natürlich nicht vorbei.

„Ich glaub, es hackt!“
Judith Holofernes 1
                               

[Aus diversen Gründen, die mit Geschmacksdifferenzen sowie divergierenden Interessens-gebieten (wie beispielsweise Humor oder Inhalt) zusammenhängen, bleibt der, für alle deutschen Zeitungen verpflichtende Artikel zu Thomas Gottschalks letztem Wetten Dass? auf Mallorca – Artikel, der den Gegenstand wahlweise freundlich euphorisch wiederholt oder sarkastisch wiederholend bespricht – in dieser Zeitung bis auf Überschrift, Motto und Fußnote leer. Diese Zeitung weigert sich, dem Gegenstand weiteren Platz einzuräumen. In der Gewissheit, Sie begrüßen das, nutzen wir die freigebliebenen Zeilen für die Wiederholung eines Gedichts, das 1931 in der Weltbühne veröffentlicht wurde.]

1 Im Gegensatz zu Bild könnte Wetten Dass? getrost tatsächlich als harmloses „Guilty pleasure“ durchgehen – allein: Wo bei diesem Stumpfsinn wäre das Vergnügen? Liebend gerne möchte man es augenzwinkernd als Trash-Kulturgut betrachten, doch wie zwinkert man mit den Augen, wenn einem vor Langeweile die Gesichtsmuskeln gefrieren?

      An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte ...
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann ...
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann ...
Ja, dann verdienst dus nicht besser.


Theobald Tiger
(Die Weltbühne, 7.7.1931)

10. Mai 2011

Das weitläufige Übungsgelände des Tohuwabohu


Leute, die mir doch eine Zeit lang vertrauenserweckend erschienen, beschweren sich über den Preis eines rosanen Buches ("und es ist ja nicht mal gebunden!"), das es bei Matthes&Seitz zu kaufen gibt. 14 Euro noch was ("und es ist ja nicht einmal dick!"). Verleger, Drucker, Autoren, Setzer und die ganze Mischpoke müssen doch einfach ohne jede Scham sein, um für sowas sowas zu verlangen... Sagen mir die Leute. Dabei stellt Wolfgang Hegewald in seinem neuen Buch Die eigene Geschichte spielerisch den schmalen Korridor der Normalität in Frage - und dafür kann man schon mal das Geld für zwei günstige Pizzen hinlegen :

Ein Traum, der Hinweis auf das um ein Jahr verfrühte Datum der Millenniumsfeierlichkeiten, ein Bericht über die Weltverhinderungsmaßnahmen der Gummischutzzone DDR. – Hegewalds neuestes Buch ist ein Sammelsurium kurzer, gehaltvoller Textstücke. Ohne weiteren ersichtlichen Zusammenhang als den Untertitel – Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000 – steht die lang ersehnte Erklärung der Redewendung auf den Hund kommen neben dem Bericht, ein Amerikaner habe einen für schwul gehaltenen Pudel tot geprügelt. Hegewald kommentiert politische Extreme, die Religion und den sich oft so arg ernst nehmenden Kulturbetrieb, gibt wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besten und alltägliche Straßenszenen, sammelt kleine Denkwürdigkeiten, kritisiert Beschränktes.

Erster Orientierungslosigkeit folgt Euphorie ob der hinreißenden Sprache, in der der Autor unerwartete Weisheiten wie Nebensächlichkeiten äußert. Dem von ihm beschriebenen Lyriker Kannenwischer (ein Zerknirchungsvirtuose von Rang) nicht unähnlich, besticht auch er mit Herzlichkeit, immerfort neckisch Nein! nickend. Mal stellt sich angesichts eines Abschnitts Erkenntnis ein, mal Freude über eine bemerkenswerte Idee, über das Aufschnappen wissenschaftlicher Fakten, die meist den eigenen Intuitionen widersprechen („Blindsichtige“ nehmen wahr, ohne sich dessen bewusst zu sein, und deshalb „sehen“ sie nichts). Auch weniger Erstaunlichem vermag der Autor durch seine gewitzte Sprache etwas hinzuzufügen oder durch kleine Verschiebungen, seine ungesehene, oft widersprüchliche Seite zu entlocken. Scheinbar völlig klare Begriffe öffnen sich unter Hegewalds fragendem Blick. Charakterfoto? Lässt sich Musik aufhören? Und welche furchtbare DDRStaatspraxis verbirgt sich hinter verblitzen?

Doch wenn diese wunderbaren Dinge auch überwiegen, mehren sich mit den Seiten ebenfalls ernüchternde Aufzeichnungen von Erlebnissen, die einen nun gar nicht überraschen (Deutsche Zuggäste beschweren sich über Bahn und BRD? ach.). Und dass er sich unter den DDR-Begriffen gerade um das Verblitzen bemüht und nicht etwa um die doch viel gemütlichere und begrifflich entzückende Brauselimonade „Leninschweiß“, enthüllt eine Schwachstelle. Von Publikationsverbot getroffen und aus der DDR emigriert, ist ihm wohl nicht nach Beleuchtung etwaiger realexistierender DDR-Gemütlichkeiten. Hegewald kritisiert die DDR mit scheinbar nicht zu brechendem Enthusiasmus – ebenso wie ihr Bild im gesamtdeutschen linksliberalen Feuilleton. Bei all seiner wachen Kritik am Status Quo des Denkens schießt sich der Kämpfer für die Differenz und die verspielten Möglichkeiten
hier ein Eigentor. Seine Position wirkt starr. Jenseits ostalgischer Verklärung ist Kritik am Hergang der Wiedervereinigung angebracht – wie auch die Festellung, dass die Ekstase der ersten „Hallelujah-DMark“- Rufe ziemlich nachgelassen hat – und macht einen nicht, wie der Autor nahelegt, zum landsmannschaftlichen Revanchisten. Dabei pflegt Hegewald doch ansonsten eine so bemerkenswerte Taktik der Enttäuschung. Denn genau wie alles Wissen private Metaphorik ist, so ist auch Wahrnehmung immer schon Interpretation und muss hinterfragt werden.

So begeistert man von diesem kleinen Bändchen ist, man gewöhnt sich ein bisschen an seine Art des Ungewohnten. Nicht alles bleibt hängen, nicht alles hat philosophisches Potential, manches eignet sich einfach dazu, bei der nächsten Party ausgeplaudert zu werden (was ja auch sehr schön ist), aber die Beobachtungen Hegewalds erinnern dennoch an eine Aphorismensammlung, die man immer wieder – auch nur stückchenweise! – und vielleicht auch am Liebsten von hinten lesen kann. Vieles möchte man sofort notieren, weil es so gut gesagt, so aufmerksam gesehen ist. Und das Tolle dabei: Es ist
bereits notiert und man kann einfach wieder aufblättern.

6. April 2011

Der Heimatfilm als Thriller und Poesie

Im Kino gewesen. Und den amerikanischen Mittleren Westen angesehen. Unglaublich, dass mich die Vereinigten Staaten Amerikas lange Zeit nicht interessiert haben.

Debra Granik hat mit dem preisgekrönten Independentfilm Winter’s Bone eine düstere poetische Hymne auf eine weltvergessene und von der Welt vergessene Region im Mittleren Westen der USA gedreht :

Der Film Winter’s Bone ist eine Erzählung aus der kargen, gottverlassenen und doch märchenhaften Hügellandschaft der Ozarks – einem Hochlandplateau, das den südlichen Teil Missouris im Mittleren Westen der USA einnimmt. Bewohner haben sich hier eine eigene Ordnung aus patriarchaler Gewalt, Clan-Rangfolge, Korruption und Drogen geschaffen, der sich auch die Staatsmacht nicht entzieht. Ein junges Mädchen stellt sich dieser Welt erbittert und wild entschlossen entgegen, um ihre Familie zu retten. Winter’s Bone – schaurig schön und brutal – zeigt somit ein Pendant zur Großstadthölle: die düstere kriminelle Seite der amerikanischen Einöde.

„Ich bin eine Dolly“, raunzt Ree den Sheriff an, als sei das selbstverständlich eine Erklärung für alles und Auszeichnung zugleich, blickt ihm dabei mit ihren starken blauen Augen direkt ins Gesicht. Die 17jährige Ree Dolly (wunderbar gespielt von der für einen Oscar nominierten Jennifer Lawrence) ist stolz auf ihre Herkunft, auch wenn sich die weiten Familienbande im Laufe des Films als durchaus belastete Verhältnisse erweisen. Als sie sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater Jessup begibt, spannen die Mitglieder ihres Clans – ausgestattet mit Ganovennamen wie Little Arthur oder Teardrop (John Hawkes, auch großartig und ebenfalls oscarnominiert) – ein Netz aus Drohungen, Brutalität und Schweigen. Ree ergibt sich nicht, sondern sucht weiter. Jessup hat Haus und Land der Familie als Kaution gesetzt, um einem erneuten Gefängnisaufenthalt wegen der Herstellung von Drogen zu entgehen. Findet sie ihn nicht, enden sie, ihre zwei jüngeren Geschwister Sonny und Ashlee und ihre Mutter, die – wie passend – nicht mehr spricht und sich offenbar vor der Härte des Lebens mit ihrem Mann in die Verrücktheit zurückgezogen hat, obdachlos im Wald.

Eine weitere Hauptrolle neben Jennifer Lawrence spielt in Winter’s Bone die Musik. Die Musik der Ozarks läuft im Radio der Dollys oder wird zur Familienfeier live gespielt. Sie rahmt den Film und betont so dessen poetische Tiefe. In der Anfangsszene singt Marideth Sisco (die auch in einer Szene zu sehen ist) mit rauher und sanfter Stimme zum Zirpen der Grillen Missouri Waltz, die Hymne von Missouri – ein Wiegenlied! –, während die beiden Kinder Sonny und Ashlee dazu in Slowmotion Trampolin springen. Way down in Missouri where I heard this melody; when I was just a  little baby on my Mommy's knee; The old folks were hummin'; their banjos were strummin'; So sweet and low. Und auch der Schluss spielt vor dem Haus der Dollys. Ree sitzt mit einem Kind auf jeder Seite auf den Verandastufen und Ashlee schrummt auf dem übriggebliebenen Banjo des Vaters ein paar unausgesuchte zarte Töne.
In diesen Klang-Rahmen fügt sich die düstere Erzählung wie ein böser Traum – voll brutaler Machenschaften und bösartiger Blicke (die Augen und Blicke der Darsteller sind allein schon den Kinobesuch wert!) –, wie eine der traditionellen Geschichten, die man sich in den Ozarks seit jeher erzählt. Lassen einen die Bilder der einsamen Landschaften und ärmlichen heruntergekommenen Häuser zuerst in melancholische Stimmung verfallen, wendet eine der großen Szenen den Film unerwartet hin zum Thriller und schlägt somit ein anderes Tempo an. Rees Leben ist plötzlich bedroht. In dieser Welt, die die Einwohner der Gegend in einem sehenswerten Interview mit der Filmemacherin als eine Art Drittweltland bezeichnen – isoliert, geprägt von Armut und vom steten Kampf mit den harten Lebensbedingungen – ist Ree der lebendige Widerstand. Die Heldin, die die begrenzten Möglichkeiten zwischen Babys und Reserveoffizier-Ausbildungskorps, zwischen Waldwirtschaft, Rinderzucht und Drogensumpf auslotet.

Vielleicht liegt es am Autor Daniel Woodrell, der die Drehbuchvorlage lieferte und die Regisseurin Debra Granik bei der Auswahl ihrer Drehorte beriet, vielleicht daran, dass etliche Darsteller, unter denen auch Amateure sind, tatsächlich in Südmissouri leben, möglicherweise ist es die traditionelle Musik, die den Film stets begleitet, die wunderschönen Aufnahmen – dieser Thriller ist, trotz oder vielmehr mit seiner stets impliziten Gesellschaftskritik, auf ganz besondere Weise ein Heimatfilm geworden, das poetische Portrait einer Region.

25. Januar 2011

Sommergäste auf dem Weg zum Winterball

Wir haben die Fahnen des neuen Buchs von Peter Stamm bekommen. Mein erstes. Ungewohnt. Aber eh nicht so schlecht! Die Frage ist: wo ist eigentlich mehr Leben?

Im Hotel im Wald war früher Winterball, bevor es zum zweiten Mal Pleite machte. Ein altes Schild zeugt noch davon. Die mysteriöse Ana der Kurzgeschichte Sommergäste empfängt einen Literaturwissenschaftler im nun verlassenen Hotel in der Einöde, lässt ihn bezahlen, konfrontiert ihn mit täglich kalten Dosenravioli und einem Haus ohne Strom und Wasser. „Sie bekommen so viel mehr“, sagt sie – und er bleibt, ohne zu verstehen warum. „Früher haben alle so gelebt. Da fragte man nicht nach dem Warum. Alles war nur das, was es war. Nahrung war Nahrung, Schlaf war Schlaf, Wärme war Wärme“, sagt Anja, die seltsame Frau aus Im Wald. Mit sechzehn Jahren hat sie ihr Elternhaus verlassen, um fortan drei Jahre lang im Wald zu wohnen.
Auf den ersten Blick erzählt Peter Stamm in seinem neuen Buch Seerücken zehn sehr unterschiedliche Geschichten, in denen eben so unterschiedliche Charaktere auftauchen. Dennoch lassen sich an vielen Stellen Verbindungen ziehen, Vieles bekommt im Rückblick übergreifende Bedeutung und genau darin liegt der besondere Reiz dieser Kurzgeschichten.

Der Wald etwa spielt bei Peter Stamm immer wieder eine Rolle. Mehr als bloß Zeichen einer Region – dem sehr ländlichen und titelgebenden schweizerischen Seerücken – steht der Wald hier sinnbildlich für eine andere Art zu leben, für das Auflösen von Selbstverständlichkeiten, die Umwertung bestimmter Lebensinhalte. Nicht umsonst heißt die vierte Kurzgeschichte des Bandes Im Wald und steht ihr ein Zitat aus Henry Thoreaus Walden vor, in dem dieser seinen Versuch beschreibt, jenseits der industrialisierten Massengesellschaft der USA in einer Hütte im Wald zu leben. „Wenn er nämlich wahrhaft gelebt hat, kann das nur in fernen Landen gewesen sein.“ – Alles deutet darauf hin, dass das andere Leben, das Mehr an Leben, um das es in diesen Kurzgeschichten immer wieder geht, nicht so einfach zu haben ist. Die Protagonisten sind gewissermaßen verloren oder auf der Suche. „Gleichgültige Aufmerksamkeit“ – das ist es, was Anja im Wald sucht und findet. Im Wald, wo es den Blick des Anderen nicht gibt und man unmittelbarer sein kann. Das Leben intensivieren. Im Augenblick sein, ohne Interpretation, ohne nach vorne oder nach hinten zu sehen. Man kann im Wald schneller gehen, weil man ohne Eile ist, sagt sie, während das Leben in Gesellschaft – zumindest für Einige – wie ein Albtraum funktioniert: man versucht verzweifelt jemanden oder etwas zu erreichen und kommt, wie von unsichtbaren Fesseln gehalten, kaum vom Fleck.

Bücher können solche Fesseln sein. Immer wieder stehen sie der Aufmerksamkeit für das Leben, um die es im gesamten Band geht, im Weg. Anja wäre lieber, Erwin würde einfach anders leben, anstatt ihr aus Nietzsche oder „Der Kunst des Liebens“ zu zitieren – aber nicht einmal seine Gedanken kommen aus ihm selbst. Ana hingegen mockiert sich über die Arbeit des Literaturwissenschaftlers und fordert ihn auf, doch endlich sein eigenes Verhältnis zu den Frauen zu hinterfragen, anstatt sich mit den Frauen in einem alten russischen Theaterstück zu beschäftigen. Im Allgemeinen hat sie für seinen intellektuellen Lebensstil vor allem Verachtung übrig. Seine Bemerkung, er könne ohne Strom nicht arbeiten (der Akku seines Laptops ist leer und Strom gibt es im Hotel ja nicht), quittiert sie mit einem verächtlichen Blick – vom Erzähler lakonisch komisch wiedergegeben: „Sie schaute mich an, wie einen Schwächling.“

Auch das langjährige, bereits im Zustand der Grundgereiztheit angelangte und eingerichtete Paar Alice und Niklaus liest viel, im Italienurlaub in Der Lauf der Dinge. Im Weiteren besteht das Leben von Alice offenbar darin, sich über die anderen zu echauffieren. Hier: die Touristen. Sie machen Dreck, sie reden Deutsch, sie lösen Sudokus (anstatt zu lesen!), sie vernachlässigen ihre Kinder – kurz: sie sind prollig. Stamm beschreibt das – bis hin zum Baywatch-T-Shirt – wunderbar in Abziehbildern, doch ohne plump zu sein, sodass man überzeugt ist und verunsichert zugleich. Alice aktiviert diese Bilder ein ums andere Mal, um sich von denen abzugrenzen, die nur nach Italien „kommen, weil die anderen kommen.“ Auch wenn sie längst weg sind, richtet sie sich noch an ihnen aus – „Ich muss dauernd an sie denken, sagte Alice, der Lärm hat mich fast weniger gestört. Dem konnte man wenigstens ausweichen.“ – von ihrem eigenen Leben hat sie sich dabei bereits in distanzierte Ironie verabschiedet. Erst ein schlimmer Unfall auf Seite der Touristen bringt sie aus der Ruhe und somit auch einen neuen Impuls des Lebens mit sich.
Ist im Leben der Anderen mehr als in der leeren Distinktionsgeste von Alice? Lebt man drinnen intensiver oder draußen? Oder: Was ist das wahrhafte Leben überhaupt?

Stamm stellt diese Fragen, indem er fremde Welten aufeinander treffen lässt. Diese sind stets schwer zu versöhnen. Anja und die „normale Welt“, in die sie nach drei Jahren im Wald zurückkehrt, verstehen sich nicht einmal, beschuldigen sich stattdessen gegenseitig des Mangels an Leben, der Lebensunfähigkeit. Während Anjas Flucht in den Wald anfangs als Rückkehr zu sich selbst durchaus nachvollziehbar ist, häufen sich im Laufe der Geschichte die Depressionsklischees und man beginnt sich zu fragen, auf wessen Seite man hier steht. Anja glaubt die anderen seien „nicht normal“. Die Normalen halten sie für „verrückt“. Darf Anja Freunde und Familie als Zeitverschwendung behandeln? Und dürfte sie als gesunde junge Frau dem Tod, der ihr in Gestalt eines mysteriösen Jägers begegnet, derart gelassen gegenüber stehen?

Nach dem ersten Lesen lassen einen Stamms Kurzgeschichten durchaus perplex zurück. Sie enden abrupt und selbst die Frage, die doch überall steckt, bleibt manchmal seltsam unklar. Aber lässt man sich durch die Seltsamkeit und die mysteriöse Stimmung, die herrschen, locken, dann wird man aufmerksamer, schaut noch einmal genauer hin und entdeckt, wie hier ein Thema immer wieder variiert wird. Wo ist eigentlich mehr Leben? Diese Variation inszeniert Stamm auf erstaunliche Weise und sie gewinnt an Faszination durch die entspannte Art seines Schreibens. Stamm beobachtet sehr genau, vor allem die kleinen Nebensachen, die in seinem Schreiben relevant werden – das Zögern; die kleine Überlänge eines Lachens; die Verspätung einer Handbewegung. Die Unklarheit, die sich in den Geschichten breit macht, ist durch die klare, einfache Sprache in der er erzählt umso beunruhigender. Stamm verhandelt Normalitäten und dabei wird man selbst immer wieder mit den eigenen Positionen konfrontiert. Fragen werden in Seerücken aufgeworfen, nicht aufgelöst – und sie wirken nach.

7. Januar 2011

die Worte und die Dinge

"Die Worte und die Dinge", "Les mots et les choses" - das ist der Titel, den Foucaults "Die Ordnung der Dinge" im Französischen trägt (weil der französische Verlag auf den von Foucault eigentlich gewünschten Titel, der dann aber für die deutsche Ausgabe genommen wurde, nicht eingehen wollte).

Anders als der deutsche Titel, der den Schwerpunkt darauf setzt, dass unser Wissen und somit unsere Ordnung der Dinge immer zeit- und ortsgebunden sind und somit einem Wandel unterliegen, legt der französische Titel das Gewicht darauf, dass erst in der Verbindung von Wort und Ding unsere Begriffe entstehen, unser Wissen, unsere Welt.