24. Mai 2012

männlich, weiblich, anders


Argentinien hat ein Gesetz verabschiedet, nachdem sich jeder Mensch selbst für ein Geschlecht entscheiden darf. Dabei soll sein Körper keine Rolle spielen. Die Person entscheidet. Kein Hormontest, keine Konstellation von Geschlechtsorganen. Was bleibt, ist die Einteilung in männlich und weiblich. Was natürlich weiterhin bedeutet, dass man sich vor allem für ein Geschlecht, nicht aber unbedingt für seines entscheidet. Die argentinische Autorin und Filmemacherin Lucía Puenzo hat vor einigen Jahren einen hervorragenden Film gemacht, der genau das Problem fasst, das wie ein Tabu wirkt und über das es sonst gar keine Geschichten zu geben scheint. Alex ist weder als Mann noch als Frau geboren worden und die Eltern lassen ihr Kind nicht umoperieren, um ihm später die Freiheit der eigenen Entscheidung zu lassen. Anders als von ihnen gewünscht, entscheidet sich Alex mit 14 aber einfach dafür Alex zu bleiben und weist den für eine mögliche Operation extra angereisten Schönheitschirurgen in seine Schranken.

"Gibt es Schlimmeres als die Angst vor dem eigenen Körper?“ fragte mich einmal ein Kind, das eine „Normalisierung“ durchgemacht hatte. Es wuchs mit Operationswunden auf. In dieser Kastration manifestiert sich die Angst vor dem Doppelgeschlecht, als Metapher für alle Amputationen aus Angst vor dem Anderssein.“ – So Lucía Puenzo aus dem deutschen Presseheft ihres Films XXY.

Wir sind ja nicht einmal sprachlich in der Lage mit Menschen umzugehen, die sich nicht als männlich oder weiblich begreifen. Alex’ Vater im Film behilft sich, indem er liebevoll mal von seiner Tochter mal von seinem Sohn spricht. Aber bereits der Intersexuelle (als „der intersexuelle Mensch“) klingt falsch und auch Jugendlicher ist männlich und klingt im Fall von Alex falsch.

Dass sich die deutsche Ethikkommission in der Frage, wie man mit Kindern uneindeutigen Geschlechts fortan umgehen solle, für eine Aufsplittung in männlich, weiblich, anders ausspricht, ist zwar immerhin mehr als das argentinische Gesetz vorsieht. Es schreibt aber nur weiter an einer Geschichte, in der die einen normal sind und die anderen eben anders. Interessant wird auch sein, ob die tatsächlichen Körper eine Rolle spielen werden, sollte das Gesetz kommen. Ich würde mich sexuell natürlich liebend gerne als anders beschrieben sehen, denke aber, dass meine körperlichen Begebenheiten das gewissermaßen nicht hergäben.

Nur wird die Einführung eines dritten Geschlechts natürlich zu ungeahnten Einschränkungen im Bereich der Ehe führen, wie ein Autor der Jungle World letzhin ganz richtig bemerkte. Während nur ein Mann und eine Frau heiraten dürfen (großes Kirchenproblem), dürfen bisher auch nur Menschen des gleichen Geschlechts eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Tatsächlich sind heute natürlich Menschen bereits als Mann oder Frau verheiratet, die sich womöglich dem dritten Geschlecht zuordnen würden. Immerhin, ein bisschen Chaos schadet in solchen Fällen nicht. Vielleicht bekommt die Ehe davon dann auch einen kleinen Schlag. Oder die Einteilung in Geschlechter wird einfach endlich aufgehoben.

7. Mai 2012

Kritik und Vorurteil


Übersetzt hat den Roman von Camille de Peretti übrigens Hinrich Schmidt-Henkel. Er ist nicht nur ein bekannter und geschätzter Literaturübersetzer aus dem Französischen, sondern auch der Vorsitzende des Verbands deutscher Literaturübersetzer (VDÜ). Ich muss daran denken, dass seinerzeit, als „Nous vieillirons ensemble“ auf deutsch erschien, ein Literaturkritiker mir gegenüber äußerte, wie froh er gewesen sei, in einer Rezension eine Kritik am Übersetzer  gelesen zu haben. Der Rezensent hatte eigentlich gar nicht wirklich Kritik geübt, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass eine gewisse Schwäche im Text eventuell auf den Übersetzer zurückzuführen sei. Natürlich hatte er dies nicht überprüft. Um das deutsche Buch mit dem Original zu vergleichen hätte er mindestens des Französischen mächtig sein müssen. Nebenbei hätte er zwei Bücher statt einem und dann beide im Vergleich lesen müssen. Beim derzeitigen Preis einer Feuilletonrezension ein reichlich wahnwitziger Gedanke – der eher in die Richtung weist, in der etliche Literaturübersetzerinnen zu suchen sind, nämlich in der Abhängigkeit eines verdienenden Ehepartners. Auch die Übersetzungskritik wäre heute also ein schönes „Hobby für Hausfrauen und -männer“. De Facto gibt es aber einfach keine. Also keine Übersetzungskritik. Wenn mal ein wohlwollender Satz über die Übersetzerin fällt, kann man froh sein. – Jedenfalls: Der Rezensent hatte die Überlegung geäußert, es könne, eventuell, so sein, dass der Übersetzer schwache Stellen produziert habe. Dass die sprachliche Schwäche des Buches also gar nicht der Autorin anzulasten sei. Und der Literaturkritiker sagte mir erfreut: „Wie schön, dass dieser Hinrich Schmidt-Henkel mal kritisiert wird! Der gilt doch unter Übersetzern als unantastbar.“ Aha, dachte ich für mich: Wenn keine Kritik zu hören ist, ist das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Kritik angebracht wäre. (Ein schöner Gedankengang.)

Überhaupt seien Literaturübersetzer ja ein kritikwürdiges Völkchen, redete er sich ein wenig in Rage, scheinbar froh, endlich mal allen Frust über diese enorm einflussreiche, massenhaft auftretende und ob ihrer privilegierten Stellung nur zu beneidende Gruppe ablassen zu können. Da gönne niemand dem anderen etwas. Jeder wolle es immer besser übersetzt haben können als der, der es tatsächlich übersetzt hat. Und überhaupt bildeten sie sich ja auch noch ein, die Übersetzung, die sie geschrieben hätten, sei „ihr Text“. Frechheit, dachte ich! Die Schwächen eines Textes werden, ohne dass man es überhaupt prüfen könnte, dem Übersetzer anvermutet und dann bildet dieser sich auch noch ein, es handle sich bei dem verpfuschten deutschen Text um seinen eigenen. (Aha.)

6. Mai 2012

Altsein. Gebrauchsanweisung.

Gerade zufällig gesehen, dass Camille De Perettis "Wir werden zusammen alt" nun auch als Taschenbuch existiert. Darüber schrieb ich doch seinerzeit eine Schmähkritik! Manchmal fragt man sich wirklich, warum es bloß so viele Bücher gibt. Dabei wäre die ausweglose Leblosigkeit des Altenheims gute Bücher wert. 

 

„Geh nicht Ninotschka, in diesen Läden wartet nichts als der Tod, Einsamkeit, all diese alten Sonderlinge und grässlichen zahnlosen Weiber. Du wirst es nicht aushalten.“ Und sie hält es nicht aus. Die warnenden Worte der jungen französischen Autorin Camille de Peretti aus dem Mund des Alter Egos Camille ihres neuen Romans Wir werden zusammen alt gelten Nini. Und diese ist mittlerweile allen Warnungen zum Trotz im Altenheim Les Bégonias gelandet, langweilt sich dort zu Tode und stellt die Geduld der Menschen um sie herum dabei aus Sehnsucht nach Liebe und Leben auf eine harte Probe. „Es gibt so viel, das sie stört, da ist die Windel das geringste Problem. Sie wird nicht klingeln wie verrückt, sie will geduldig in ihrem Bett warten. Sie möchte nicht mehr sehen, wie die Leute seufzen und genervt gen Himmel blicken, wenn sie sie ruft. Sie würde alles geben, um nicht an ihrer eigenen Stelle zu sein.“ Wenige Seiten später, als Schlussakkord des Buches, stirbt diese Nini allein in ihrem Heimbett – der Notklingel an ihrem Bett hatte jemand aus Entnervung den Stecker gezogen.

De Peretti beschreibt einen Sonntag unter vielen in einem Altenheim unter vielen mit den dazugehörigen Bewohnern, Besuchern und Angestellten. Die Erzählung ist das Ergebnis gründlicher Recherchen der Autorin in verschiedenen Seniorenheimen. Protagonisten wie Geschichten und selbst die Farben beruhen auf realen Vorbildern. Sie selbst dient als Vorbild der Camille, der ihre Liebe zur alten Nini vergangen ist, die sie früher vergötterte. Es plagt sie das schlechte Gewissen, aber Ninis körperliche Verfassung und ihr ständiges Gekeife und Herumkommandieren macht jeden Besuch zu einer Qual, angesichts derer sie nur ans Fliehen denkt. An Fliehen denkt auch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der nach einigen fehlgeschlagenen Ausbruchsversuchen in erneuten Vorbereitungen steckt. Aber hier wie da gibt es keine Fluchtmöglichkeit. Das Heim kennzeichnet nicht nur sein Geruch, die Einsamkeit, die ständige Medikamentenzufuhr, die komplette Durchstrukturierung der Tage, die Abgabe jeglicher Selbstbestimmung, die raffgierigen Familien, das schlechte Gewissen, sondern auch seine Unentrinnbarkeit. Dreyfus wird immer wieder aufs Neue erwischt und zurückgeholt.
Und was Camille angeht, sie kann nur hingehen und es furchtbar finden oder nicht hingehen und sich selbst furchtbar finden. Somit steckt in Wir werden zusammen alt auch eine absurde, vollkommen nachvollziehbare Kritik am Altsein selbst. Obwohl viele Protagonisten ihre Großmütter, Mütter oder alten Bekannten lieben, – oder sie wenigstens lieben wollen – es scheint unmöglich ihnen das zu geben, was sie brauchen, will man nicht sein eigenes Leben aufgeben. Der Raum verengt sich mit dem Altwerden. Man kann immer weniger weit gehen. Die Augen werden beim Lesen immer schneller müde. Der Körper hält mit dem Wunsch nach Leben nicht mehr Schritt. Die Erinnerungen, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben, finden keine Entsprechung mehr im jetzigen Leben. Wenn man jemanden hat, dem man sie erzählen kann, ist das viel.

Vor wenigen Jahren erst sind während der ungewöhnlichen Hitzewelle 2003 in Frankreich über 10.000 Menschen gestorben – die meisten von ihnen Senioren, über die Hälfte in Heimen untergebracht. Im Anschluss schoben sich Bevölkerung und Regierung auf unterhaltsame Weise die Schuld in die Schuhe und beschuldigten sich gegenseitig grober Vernachlässigung. In der Tat starben viele Alte von ihrer Familie unbemerkt und einsam zuhause. In der Tat hatte die französische Regierung über Jahre hinweg am Pflege- und Gesundheitssystem derart gespart, dass die Altenheime in erbärmlichem Zustand waren – mancherorts kam eine Pflegeperson auf siebzig Pflegebedürftige. Eine Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen ist also durchaus angebracht. De Peretti hat diese für ihren Roman aber nicht im Sinn. Die wirklich erbärmlichen Umstände des Heimlebens lässt sie tatsächlich außen vor, sagt sie, wie beispielsweise die Tatsache, dass nach ungefähr sechs Wochen im Heim, 80% der Bewohner Windeln tragen, obwohl zuvor ebenso viele nicht inkontinent waren. Der Autorin geht es um die Darstellung alter Menschen. Die Darstellung schafft es aber leider über weite Strecken nicht, die Charaktere mit Leben zu füllen und dem Leser nahe zu bringen. Man versteht, was im Heim passiert – dabei handelt es sich ja nicht um neue Einsichten – aber es berührt nicht.
Was Andreas Dresen 2008 in seinem Film „Wolke 9“ hervorragend gelungen ist, nämlich darzustellen, dass zwei alte Menschen, die sich verlieben, sich genauso verlieben und miteinander ins Bett gehen, wie junge auch, gelingt Camille de Peretti nur bedingt. Zu Anfang des Romans erscheinen die Alten vielmehr allzu oft wie „alte Kinder“, die ernst zu nehmen schwer fällt und die vor allem „anders“ sind. Ihr Getratsche, ihr Buhlen um Zuneigung ist jedoch kein Charakteristikum hohen Alters, sondern existiert – so unangenehm mancher das finden mag – bei Personen jeden Alters und tritt natürlich geballt auf, sobald man geballt zusammengepfercht leben muss.

Während die Thematik auch Grund und Stoff für einen finsteren, gar sarkastischen Roman geboten hätte, bewegt sich de Perettis Erzählung leicht und gewissermaßen unverfänglich an der Oberfläche der Geschehnisse und Figuren – von den wenigen Ausnahmen gegen Ende abgesehen, die einem nahe gehen, bei denen es um erlebte Vergewaltigung in der Familie, den missglückten Ausbruchversuch von Dreyfus und den Tod Ninis geht.
De Perettis einfache und humoristische Sprache rettet den Roman nicht vor seiner schlussendlichen Belanglosigkeit. Auch das Formexperiment, das sich die Autorin, geprägt von ihrer eigenen Lektüre und gewissermaßen als Hommage an George Pérec von diesem entleiht, bleibt in dieser Variante banal. Wie Pérec, der Oulipo-Schriftsteller, der sich im Versuch, die Literatur Mathematik werden zu lassen, immer wieder neue Auflagen für sein Schreiben gesetzt hat, folgt de Peretti einem mathematischen Schema, um ihre Erzählung zu konstruieren. Einen seiner Romane schrieb Pérec ohne ein einziges E zu verwenden, einen anderen wiederum mit E als einzigem Vokal. De Peretti hat sich Das Leben. Gebrauchsanweisung zum Vorbild genommen, das Altenheim schachbrettartig in 64 Felder geteilt, um sich dann nach einem komplizierten – in ihrem Fall von einem Computer ausgerechneten – Muster im Modus des Springers eines Schachspiels von einem Zimmer zum nächsten vorzuarbeiten. Dass sie dies tut, fällt im Verlauf des Lesens keinesfalls auf, und der Witz der literarischen Herausforderung gebührt nun mal deren Erfinder.

14. März 2012

was man nicht alles tut...

Im Freitag heute eine riesen Rezension von Michael Muhammad Knights Taqwacore, das dieser Tage bei Rogner und Bernhard erscheint. Überraschenderweise weiß ich längst bescheid, obwohl ich englischsprachige Bücher sonst zugegebenermaßen eher selten lese. Das Buch ist in Amerika bereits seit knapp zehn Jahren gedruckt. Und es gibt sogar bereits eine Verfilmung. Hab ich auch gesehen. Fand ich zwar nicht grandios, aber das Thema ist natürlich wunderbar. Besonders mag ich ja die immer in Burka gekleidete Hardcore-Punkerin (die Burka natürlich über und über benäht mit Aufnähern. versteht sich.), die das Regal voll Simone de Beauvoir hat, und sich freut, von Männern nur noch schwerlich auf ihren Körper reduziert werden zu können.

Folgendes hat es quasi nie gegeben (Kollateral-Dateien meiner prekären Existenz?) :




20. Juni 2011

Deutsches Kulturgut wechselt den Moderator (Aha.)


Am vergangenen Samstag war der Showmaster Thomas Gottschalk vermutlich zum letzten Mal für eine Veranstaltung der allseits bekannten Sendung Wetten Dass? auf Mallorca verantwortlich. Als Redakteur kommt man daran in Deutschland natürlich nicht vorbei.

„Ich glaub, es hackt!“
Judith Holofernes 1
                               

[Aus diversen Gründen, die mit Geschmacksdifferenzen sowie divergierenden Interessens-gebieten (wie beispielsweise Humor oder Inhalt) zusammenhängen, bleibt der, für alle deutschen Zeitungen verpflichtende Artikel zu Thomas Gottschalks letztem Wetten Dass? auf Mallorca – Artikel, der den Gegenstand wahlweise freundlich euphorisch wiederholt oder sarkastisch wiederholend bespricht – in dieser Zeitung bis auf Überschrift, Motto und Fußnote leer. Diese Zeitung weigert sich, dem Gegenstand weiteren Platz einzuräumen. In der Gewissheit, Sie begrüßen das, nutzen wir die freigebliebenen Zeilen für die Wiederholung eines Gedichts, das 1931 in der Weltbühne veröffentlicht wurde.]

1 Im Gegensatz zu Bild könnte Wetten Dass? getrost tatsächlich als harmloses „Guilty pleasure“ durchgehen – allein: Wo bei diesem Stumpfsinn wäre das Vergnügen? Liebend gerne möchte man es augenzwinkernd als Trash-Kulturgut betrachten, doch wie zwinkert man mit den Augen, wenn einem vor Langeweile die Gesichtsmuskeln gefrieren?

      An das Publikum

O hochverehrtes Publikum,
sag mal: bist du wirklich so dumm,
wie uns das an allen Tagen
alle Unternehmer sagen?
Jeder Direktor mit dickem Popo
spricht: »Das Publikum will es so!«
Jeder Filmfritze sagt: »Was soll ich machen?
Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!«
Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht:
»Gute Bücher gehn eben nicht!«
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

So dumm, dass in Zeitungen, früh und spät,
immer weniger zu lesen steht?
Aus lauter Furcht, du könntest verletzt sein;
aus lauter Angst, es soll niemand verhetzt sein;
aus lauter Besorgnis, Müller und Cohn
könnten mit Abbestellung drohn?
Aus Bangigkeit, es käme am Ende
einer der zahllosen Reichsverbände
und protestierte und denunzierte
und demonstrierte und prozessierte ...
Sag mal, verehrtes Publikum:
bist du wirklich so dumm?

Ja, dann ...
Es lastet auf dieser Zeit
der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Hast du so einen schwachen Magen?
Kannst du keine Wahrheit vertragen?
Bist also nur ein Grießbrei-Fresser –?
Ja, dann ...
Ja, dann verdienst dus nicht besser.


Theobald Tiger
(Die Weltbühne, 7.7.1931)

10. Mai 2011

Das weitläufige Übungsgelände des Tohuwabohu


Leute, die mir doch eine Zeit lang vertrauenserweckend erschienen, beschweren sich über den Preis eines rosanen Buches ("und es ist ja nicht mal gebunden!"), das es bei Matthes&Seitz zu kaufen gibt. 14 Euro noch was ("und es ist ja nicht einmal dick!"). Verleger, Drucker, Autoren, Setzer und die ganze Mischpoke müssen doch einfach ohne jede Scham sein, um für sowas sowas zu verlangen... Sagen mir die Leute. Dabei stellt Wolfgang Hegewald in seinem neuen Buch Die eigene Geschichte spielerisch den schmalen Korridor der Normalität in Frage - und dafür kann man schon mal das Geld für zwei günstige Pizzen hinlegen :

Ein Traum, der Hinweis auf das um ein Jahr verfrühte Datum der Millenniumsfeierlichkeiten, ein Bericht über die Weltverhinderungsmaßnahmen der Gummischutzzone DDR. – Hegewalds neuestes Buch ist ein Sammelsurium kurzer, gehaltvoller Textstücke. Ohne weiteren ersichtlichen Zusammenhang als den Untertitel – Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000 – steht die lang ersehnte Erklärung der Redewendung auf den Hund kommen neben dem Bericht, ein Amerikaner habe einen für schwul gehaltenen Pudel tot geprügelt. Hegewald kommentiert politische Extreme, die Religion und den sich oft so arg ernst nehmenden Kulturbetrieb, gibt wissenschaftliche Erkenntnisse zum Besten und alltägliche Straßenszenen, sammelt kleine Denkwürdigkeiten, kritisiert Beschränktes.

Erster Orientierungslosigkeit folgt Euphorie ob der hinreißenden Sprache, in der der Autor unerwartete Weisheiten wie Nebensächlichkeiten äußert. Dem von ihm beschriebenen Lyriker Kannenwischer (ein Zerknirchungsvirtuose von Rang) nicht unähnlich, besticht auch er mit Herzlichkeit, immerfort neckisch Nein! nickend. Mal stellt sich angesichts eines Abschnitts Erkenntnis ein, mal Freude über eine bemerkenswerte Idee, über das Aufschnappen wissenschaftlicher Fakten, die meist den eigenen Intuitionen widersprechen („Blindsichtige“ nehmen wahr, ohne sich dessen bewusst zu sein, und deshalb „sehen“ sie nichts). Auch weniger Erstaunlichem vermag der Autor durch seine gewitzte Sprache etwas hinzuzufügen oder durch kleine Verschiebungen, seine ungesehene, oft widersprüchliche Seite zu entlocken. Scheinbar völlig klare Begriffe öffnen sich unter Hegewalds fragendem Blick. Charakterfoto? Lässt sich Musik aufhören? Und welche furchtbare DDRStaatspraxis verbirgt sich hinter verblitzen?

Doch wenn diese wunderbaren Dinge auch überwiegen, mehren sich mit den Seiten ebenfalls ernüchternde Aufzeichnungen von Erlebnissen, die einen nun gar nicht überraschen (Deutsche Zuggäste beschweren sich über Bahn und BRD? ach.). Und dass er sich unter den DDR-Begriffen gerade um das Verblitzen bemüht und nicht etwa um die doch viel gemütlichere und begrifflich entzückende Brauselimonade „Leninschweiß“, enthüllt eine Schwachstelle. Von Publikationsverbot getroffen und aus der DDR emigriert, ist ihm wohl nicht nach Beleuchtung etwaiger realexistierender DDR-Gemütlichkeiten. Hegewald kritisiert die DDR mit scheinbar nicht zu brechendem Enthusiasmus – ebenso wie ihr Bild im gesamtdeutschen linksliberalen Feuilleton. Bei all seiner wachen Kritik am Status Quo des Denkens schießt sich der Kämpfer für die Differenz und die verspielten Möglichkeiten
hier ein Eigentor. Seine Position wirkt starr. Jenseits ostalgischer Verklärung ist Kritik am Hergang der Wiedervereinigung angebracht – wie auch die Festellung, dass die Ekstase der ersten „Hallelujah-DMark“- Rufe ziemlich nachgelassen hat – und macht einen nicht, wie der Autor nahelegt, zum landsmannschaftlichen Revanchisten. Dabei pflegt Hegewald doch ansonsten eine so bemerkenswerte Taktik der Enttäuschung. Denn genau wie alles Wissen private Metaphorik ist, so ist auch Wahrnehmung immer schon Interpretation und muss hinterfragt werden.

So begeistert man von diesem kleinen Bändchen ist, man gewöhnt sich ein bisschen an seine Art des Ungewohnten. Nicht alles bleibt hängen, nicht alles hat philosophisches Potential, manches eignet sich einfach dazu, bei der nächsten Party ausgeplaudert zu werden (was ja auch sehr schön ist), aber die Beobachtungen Hegewalds erinnern dennoch an eine Aphorismensammlung, die man immer wieder – auch nur stückchenweise! – und vielleicht auch am Liebsten von hinten lesen kann. Vieles möchte man sofort notieren, weil es so gut gesagt, so aufmerksam gesehen ist. Und das Tolle dabei: Es ist
bereits notiert und man kann einfach wieder aufblättern.

6. April 2011

Der Heimatfilm als Thriller und Poesie

Im Kino gewesen. Und den amerikanischen Mittleren Westen angesehen. Unglaublich, dass mich die Vereinigten Staaten Amerikas lange Zeit nicht interessiert haben.

Debra Granik hat mit dem preisgekrönten Independentfilm Winter’s Bone eine düstere poetische Hymne auf eine weltvergessene und von der Welt vergessene Region im Mittleren Westen der USA gedreht :

Der Film Winter’s Bone ist eine Erzählung aus der kargen, gottverlassenen und doch märchenhaften Hügellandschaft der Ozarks – einem Hochlandplateau, das den südlichen Teil Missouris im Mittleren Westen der USA einnimmt. Bewohner haben sich hier eine eigene Ordnung aus patriarchaler Gewalt, Clan-Rangfolge, Korruption und Drogen geschaffen, der sich auch die Staatsmacht nicht entzieht. Ein junges Mädchen stellt sich dieser Welt erbittert und wild entschlossen entgegen, um ihre Familie zu retten. Winter’s Bone – schaurig schön und brutal – zeigt somit ein Pendant zur Großstadthölle: die düstere kriminelle Seite der amerikanischen Einöde.

„Ich bin eine Dolly“, raunzt Ree den Sheriff an, als sei das selbstverständlich eine Erklärung für alles und Auszeichnung zugleich, blickt ihm dabei mit ihren starken blauen Augen direkt ins Gesicht. Die 17jährige Ree Dolly (wunderbar gespielt von der für einen Oscar nominierten Jennifer Lawrence) ist stolz auf ihre Herkunft, auch wenn sich die weiten Familienbande im Laufe des Films als durchaus belastete Verhältnisse erweisen. Als sie sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater Jessup begibt, spannen die Mitglieder ihres Clans – ausgestattet mit Ganovennamen wie Little Arthur oder Teardrop (John Hawkes, auch großartig und ebenfalls oscarnominiert) – ein Netz aus Drohungen, Brutalität und Schweigen. Ree ergibt sich nicht, sondern sucht weiter. Jessup hat Haus und Land der Familie als Kaution gesetzt, um einem erneuten Gefängnisaufenthalt wegen der Herstellung von Drogen zu entgehen. Findet sie ihn nicht, enden sie, ihre zwei jüngeren Geschwister Sonny und Ashlee und ihre Mutter, die – wie passend – nicht mehr spricht und sich offenbar vor der Härte des Lebens mit ihrem Mann in die Verrücktheit zurückgezogen hat, obdachlos im Wald.

Eine weitere Hauptrolle neben Jennifer Lawrence spielt in Winter’s Bone die Musik. Die Musik der Ozarks läuft im Radio der Dollys oder wird zur Familienfeier live gespielt. Sie rahmt den Film und betont so dessen poetische Tiefe. In der Anfangsszene singt Marideth Sisco (die auch in einer Szene zu sehen ist) mit rauher und sanfter Stimme zum Zirpen der Grillen Missouri Waltz, die Hymne von Missouri – ein Wiegenlied! –, während die beiden Kinder Sonny und Ashlee dazu in Slowmotion Trampolin springen. Way down in Missouri where I heard this melody; when I was just a  little baby on my Mommy's knee; The old folks were hummin'; their banjos were strummin'; So sweet and low. Und auch der Schluss spielt vor dem Haus der Dollys. Ree sitzt mit einem Kind auf jeder Seite auf den Verandastufen und Ashlee schrummt auf dem übriggebliebenen Banjo des Vaters ein paar unausgesuchte zarte Töne.
In diesen Klang-Rahmen fügt sich die düstere Erzählung wie ein böser Traum – voll brutaler Machenschaften und bösartiger Blicke (die Augen und Blicke der Darsteller sind allein schon den Kinobesuch wert!) –, wie eine der traditionellen Geschichten, die man sich in den Ozarks seit jeher erzählt. Lassen einen die Bilder der einsamen Landschaften und ärmlichen heruntergekommenen Häuser zuerst in melancholische Stimmung verfallen, wendet eine der großen Szenen den Film unerwartet hin zum Thriller und schlägt somit ein anderes Tempo an. Rees Leben ist plötzlich bedroht. In dieser Welt, die die Einwohner der Gegend in einem sehenswerten Interview mit der Filmemacherin als eine Art Drittweltland bezeichnen – isoliert, geprägt von Armut und vom steten Kampf mit den harten Lebensbedingungen – ist Ree der lebendige Widerstand. Die Heldin, die die begrenzten Möglichkeiten zwischen Babys und Reserveoffizier-Ausbildungskorps, zwischen Waldwirtschaft, Rinderzucht und Drogensumpf auslotet.

Vielleicht liegt es am Autor Daniel Woodrell, der die Drehbuchvorlage lieferte und die Regisseurin Debra Granik bei der Auswahl ihrer Drehorte beriet, vielleicht daran, dass etliche Darsteller, unter denen auch Amateure sind, tatsächlich in Südmissouri leben, möglicherweise ist es die traditionelle Musik, die den Film stets begleitet, die wunderschönen Aufnahmen – dieser Thriller ist, trotz oder vielmehr mit seiner stets impliziten Gesellschaftskritik, auf ganz besondere Weise ein Heimatfilm geworden, das poetische Portrait einer Region.