24. Mai 2012

männlich, weiblich, anders


Argentinien hat ein Gesetz verabschiedet, nachdem sich jeder Mensch selbst für ein Geschlecht entscheiden darf. Dabei soll sein Körper keine Rolle spielen. Die Person entscheidet. Kein Hormontest, keine Konstellation von Geschlechtsorganen. Was bleibt, ist die Einteilung in männlich und weiblich. Was natürlich weiterhin bedeutet, dass man sich vor allem für ein Geschlecht, nicht aber unbedingt für seines entscheidet. Die argentinische Autorin und Filmemacherin Lucía Puenzo hat vor einigen Jahren einen hervorragenden Film gemacht, der genau das Problem fasst, das wie ein Tabu wirkt und über das es sonst gar keine Geschichten zu geben scheint. Alex ist weder als Mann noch als Frau geboren worden und die Eltern lassen ihr Kind nicht umoperieren, um ihm später die Freiheit der eigenen Entscheidung zu lassen. Anders als von ihnen gewünscht, entscheidet sich Alex mit 14 aber einfach dafür Alex zu bleiben und weist den für eine mögliche Operation extra angereisten Schönheitschirurgen in seine Schranken.

"Gibt es Schlimmeres als die Angst vor dem eigenen Körper?“ fragte mich einmal ein Kind, das eine „Normalisierung“ durchgemacht hatte. Es wuchs mit Operationswunden auf. In dieser Kastration manifestiert sich die Angst vor dem Doppelgeschlecht, als Metapher für alle Amputationen aus Angst vor dem Anderssein.“ – So Lucía Puenzo aus dem deutschen Presseheft ihres Films XXY.

Wir sind ja nicht einmal sprachlich in der Lage mit Menschen umzugehen, die sich nicht als männlich oder weiblich begreifen. Alex’ Vater im Film behilft sich, indem er liebevoll mal von seiner Tochter mal von seinem Sohn spricht. Aber bereits der Intersexuelle (als „der intersexuelle Mensch“) klingt falsch und auch Jugendlicher ist männlich und klingt im Fall von Alex falsch.

Dass sich die deutsche Ethikkommission in der Frage, wie man mit Kindern uneindeutigen Geschlechts fortan umgehen solle, für eine Aufsplittung in männlich, weiblich, anders ausspricht, ist zwar immerhin mehr als das argentinische Gesetz vorsieht. Es schreibt aber nur weiter an einer Geschichte, in der die einen normal sind und die anderen eben anders. Interessant wird auch sein, ob die tatsächlichen Körper eine Rolle spielen werden, sollte das Gesetz kommen. Ich würde mich sexuell natürlich liebend gerne als anders beschrieben sehen, denke aber, dass meine körperlichen Begebenheiten das gewissermaßen nicht hergäben.

Nur wird die Einführung eines dritten Geschlechts natürlich zu ungeahnten Einschränkungen im Bereich der Ehe führen, wie ein Autor der Jungle World letzhin ganz richtig bemerkte. Während nur ein Mann und eine Frau heiraten dürfen (großes Kirchenproblem), dürfen bisher auch nur Menschen des gleichen Geschlechts eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Tatsächlich sind heute natürlich Menschen bereits als Mann oder Frau verheiratet, die sich womöglich dem dritten Geschlecht zuordnen würden. Immerhin, ein bisschen Chaos schadet in solchen Fällen nicht. Vielleicht bekommt die Ehe davon dann auch einen kleinen Schlag. Oder die Einteilung in Geschlechter wird einfach endlich aufgehoben.

7. Mai 2012

Kritik und Vorurteil


Übersetzt hat den Roman von Camille de Peretti übrigens Hinrich Schmidt-Henkel. Er ist nicht nur ein bekannter und geschätzter Literaturübersetzer aus dem Französischen, sondern auch der Vorsitzende des Verbands deutscher Literaturübersetzer (VDÜ). Ich muss daran denken, dass seinerzeit, als „Nous vieillirons ensemble“ auf deutsch erschien, ein Literaturkritiker mir gegenüber äußerte, wie froh er gewesen sei, in einer Rezension eine Kritik am Übersetzer  gelesen zu haben. Der Rezensent hatte eigentlich gar nicht wirklich Kritik geübt, sondern lediglich darauf hingewiesen, dass eine gewisse Schwäche im Text eventuell auf den Übersetzer zurückzuführen sei. Natürlich hatte er dies nicht überprüft. Um das deutsche Buch mit dem Original zu vergleichen hätte er mindestens des Französischen mächtig sein müssen. Nebenbei hätte er zwei Bücher statt einem und dann beide im Vergleich lesen müssen. Beim derzeitigen Preis einer Feuilletonrezension ein reichlich wahnwitziger Gedanke – der eher in die Richtung weist, in der etliche Literaturübersetzerinnen zu suchen sind, nämlich in der Abhängigkeit eines verdienenden Ehepartners. Auch die Übersetzungskritik wäre heute also ein schönes „Hobby für Hausfrauen und -männer“. De Facto gibt es aber einfach keine. Also keine Übersetzungskritik. Wenn mal ein wohlwollender Satz über die Übersetzerin fällt, kann man froh sein. – Jedenfalls: Der Rezensent hatte die Überlegung geäußert, es könne, eventuell, so sein, dass der Übersetzer schwache Stellen produziert habe. Dass die sprachliche Schwäche des Buches also gar nicht der Autorin anzulasten sei. Und der Literaturkritiker sagte mir erfreut: „Wie schön, dass dieser Hinrich Schmidt-Henkel mal kritisiert wird! Der gilt doch unter Übersetzern als unantastbar.“ Aha, dachte ich für mich: Wenn keine Kritik zu hören ist, ist das ein untrügliches Anzeichen dafür, dass Kritik angebracht wäre. (Ein schöner Gedankengang.)

Überhaupt seien Literaturübersetzer ja ein kritikwürdiges Völkchen, redete er sich ein wenig in Rage, scheinbar froh, endlich mal allen Frust über diese enorm einflussreiche, massenhaft auftretende und ob ihrer privilegierten Stellung nur zu beneidende Gruppe ablassen zu können. Da gönne niemand dem anderen etwas. Jeder wolle es immer besser übersetzt haben können als der, der es tatsächlich übersetzt hat. Und überhaupt bildeten sie sich ja auch noch ein, die Übersetzung, die sie geschrieben hätten, sei „ihr Text“. Frechheit, dachte ich! Die Schwächen eines Textes werden, ohne dass man es überhaupt prüfen könnte, dem Übersetzer anvermutet und dann bildet dieser sich auch noch ein, es handle sich bei dem verpfuschten deutschen Text um seinen eigenen. (Aha.)

6. Mai 2012

Altsein. Gebrauchsanweisung.

Gerade zufällig gesehen, dass Camille De Perettis "Wir werden zusammen alt" nun auch als Taschenbuch existiert. Darüber schrieb ich doch seinerzeit eine Schmähkritik! Manchmal fragt man sich wirklich, warum es bloß so viele Bücher gibt. Dabei wäre die ausweglose Leblosigkeit des Altenheims gute Bücher wert. 

 

„Geh nicht Ninotschka, in diesen Läden wartet nichts als der Tod, Einsamkeit, all diese alten Sonderlinge und grässlichen zahnlosen Weiber. Du wirst es nicht aushalten.“ Und sie hält es nicht aus. Die warnenden Worte der jungen französischen Autorin Camille de Peretti aus dem Mund des Alter Egos Camille ihres neuen Romans Wir werden zusammen alt gelten Nini. Und diese ist mittlerweile allen Warnungen zum Trotz im Altenheim Les Bégonias gelandet, langweilt sich dort zu Tode und stellt die Geduld der Menschen um sie herum dabei aus Sehnsucht nach Liebe und Leben auf eine harte Probe. „Es gibt so viel, das sie stört, da ist die Windel das geringste Problem. Sie wird nicht klingeln wie verrückt, sie will geduldig in ihrem Bett warten. Sie möchte nicht mehr sehen, wie die Leute seufzen und genervt gen Himmel blicken, wenn sie sie ruft. Sie würde alles geben, um nicht an ihrer eigenen Stelle zu sein.“ Wenige Seiten später, als Schlussakkord des Buches, stirbt diese Nini allein in ihrem Heimbett – der Notklingel an ihrem Bett hatte jemand aus Entnervung den Stecker gezogen.

De Peretti beschreibt einen Sonntag unter vielen in einem Altenheim unter vielen mit den dazugehörigen Bewohnern, Besuchern und Angestellten. Die Erzählung ist das Ergebnis gründlicher Recherchen der Autorin in verschiedenen Seniorenheimen. Protagonisten wie Geschichten und selbst die Farben beruhen auf realen Vorbildern. Sie selbst dient als Vorbild der Camille, der ihre Liebe zur alten Nini vergangen ist, die sie früher vergötterte. Es plagt sie das schlechte Gewissen, aber Ninis körperliche Verfassung und ihr ständiges Gekeife und Herumkommandieren macht jeden Besuch zu einer Qual, angesichts derer sie nur ans Fliehen denkt. An Fliehen denkt auch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der nach einigen fehlgeschlagenen Ausbruchsversuchen in erneuten Vorbereitungen steckt. Aber hier wie da gibt es keine Fluchtmöglichkeit. Das Heim kennzeichnet nicht nur sein Geruch, die Einsamkeit, die ständige Medikamentenzufuhr, die komplette Durchstrukturierung der Tage, die Abgabe jeglicher Selbstbestimmung, die raffgierigen Familien, das schlechte Gewissen, sondern auch seine Unentrinnbarkeit. Dreyfus wird immer wieder aufs Neue erwischt und zurückgeholt.
Und was Camille angeht, sie kann nur hingehen und es furchtbar finden oder nicht hingehen und sich selbst furchtbar finden. Somit steckt in Wir werden zusammen alt auch eine absurde, vollkommen nachvollziehbare Kritik am Altsein selbst. Obwohl viele Protagonisten ihre Großmütter, Mütter oder alten Bekannten lieben, – oder sie wenigstens lieben wollen – es scheint unmöglich ihnen das zu geben, was sie brauchen, will man nicht sein eigenes Leben aufgeben. Der Raum verengt sich mit dem Altwerden. Man kann immer weniger weit gehen. Die Augen werden beim Lesen immer schneller müde. Der Körper hält mit dem Wunsch nach Leben nicht mehr Schritt. Die Erinnerungen, die sich im Laufe des Lebens angesammelt haben, finden keine Entsprechung mehr im jetzigen Leben. Wenn man jemanden hat, dem man sie erzählen kann, ist das viel.

Vor wenigen Jahren erst sind während der ungewöhnlichen Hitzewelle 2003 in Frankreich über 10.000 Menschen gestorben – die meisten von ihnen Senioren, über die Hälfte in Heimen untergebracht. Im Anschluss schoben sich Bevölkerung und Regierung auf unterhaltsame Weise die Schuld in die Schuhe und beschuldigten sich gegenseitig grober Vernachlässigung. In der Tat starben viele Alte von ihrer Familie unbemerkt und einsam zuhause. In der Tat hatte die französische Regierung über Jahre hinweg am Pflege- und Gesundheitssystem derart gespart, dass die Altenheime in erbärmlichem Zustand waren – mancherorts kam eine Pflegeperson auf siebzig Pflegebedürftige. Eine Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen ist also durchaus angebracht. De Peretti hat diese für ihren Roman aber nicht im Sinn. Die wirklich erbärmlichen Umstände des Heimlebens lässt sie tatsächlich außen vor, sagt sie, wie beispielsweise die Tatsache, dass nach ungefähr sechs Wochen im Heim, 80% der Bewohner Windeln tragen, obwohl zuvor ebenso viele nicht inkontinent waren. Der Autorin geht es um die Darstellung alter Menschen. Die Darstellung schafft es aber leider über weite Strecken nicht, die Charaktere mit Leben zu füllen und dem Leser nahe zu bringen. Man versteht, was im Heim passiert – dabei handelt es sich ja nicht um neue Einsichten – aber es berührt nicht.
Was Andreas Dresen 2008 in seinem Film „Wolke 9“ hervorragend gelungen ist, nämlich darzustellen, dass zwei alte Menschen, die sich verlieben, sich genauso verlieben und miteinander ins Bett gehen, wie junge auch, gelingt Camille de Peretti nur bedingt. Zu Anfang des Romans erscheinen die Alten vielmehr allzu oft wie „alte Kinder“, die ernst zu nehmen schwer fällt und die vor allem „anders“ sind. Ihr Getratsche, ihr Buhlen um Zuneigung ist jedoch kein Charakteristikum hohen Alters, sondern existiert – so unangenehm mancher das finden mag – bei Personen jeden Alters und tritt natürlich geballt auf, sobald man geballt zusammengepfercht leben muss.

Während die Thematik auch Grund und Stoff für einen finsteren, gar sarkastischen Roman geboten hätte, bewegt sich de Perettis Erzählung leicht und gewissermaßen unverfänglich an der Oberfläche der Geschehnisse und Figuren – von den wenigen Ausnahmen gegen Ende abgesehen, die einem nahe gehen, bei denen es um erlebte Vergewaltigung in der Familie, den missglückten Ausbruchversuch von Dreyfus und den Tod Ninis geht.
De Perettis einfache und humoristische Sprache rettet den Roman nicht vor seiner schlussendlichen Belanglosigkeit. Auch das Formexperiment, das sich die Autorin, geprägt von ihrer eigenen Lektüre und gewissermaßen als Hommage an George Pérec von diesem entleiht, bleibt in dieser Variante banal. Wie Pérec, der Oulipo-Schriftsteller, der sich im Versuch, die Literatur Mathematik werden zu lassen, immer wieder neue Auflagen für sein Schreiben gesetzt hat, folgt de Peretti einem mathematischen Schema, um ihre Erzählung zu konstruieren. Einen seiner Romane schrieb Pérec ohne ein einziges E zu verwenden, einen anderen wiederum mit E als einzigem Vokal. De Peretti hat sich Das Leben. Gebrauchsanweisung zum Vorbild genommen, das Altenheim schachbrettartig in 64 Felder geteilt, um sich dann nach einem komplizierten – in ihrem Fall von einem Computer ausgerechneten – Muster im Modus des Springers eines Schachspiels von einem Zimmer zum nächsten vorzuarbeiten. Dass sie dies tut, fällt im Verlauf des Lesens keinesfalls auf, und der Witz der literarischen Herausforderung gebührt nun mal deren Erfinder.