Gerade zufällig gesehen, dass Camille De Perettis "Wir werden zusammen alt" nun auch als Taschenbuch existiert. Darüber schrieb ich doch seinerzeit eine Schmähkritik! Manchmal fragt man sich wirklich, warum es bloß so viele Bücher gibt. Dabei wäre die ausweglose Leblosigkeit des Altenheims gute Bücher wert.
„Geh nicht Ninotschka, in diesen
Läden wartet nichts als der Tod, Einsamkeit, all diese alten Sonderlinge und
grässlichen zahnlosen Weiber. Du wirst es nicht aushalten.“ Und sie hält es
nicht aus. Die warnenden Worte der jungen französischen Autorin Camille de
Peretti aus dem Mund des Alter Egos Camille ihres neuen Romans Wir werden zusammen alt gelten Nini. Und
diese ist mittlerweile allen Warnungen zum Trotz im Altenheim Les Bégonias gelandet, langweilt sich
dort zu Tode und stellt die Geduld der Menschen um sie herum dabei aus
Sehnsucht nach Liebe und Leben auf eine harte Probe. „Es gibt so viel, das sie
stört, da ist die Windel das geringste Problem. Sie wird nicht klingeln wie
verrückt, sie will geduldig in ihrem Bett warten. Sie möchte nicht mehr sehen,
wie die Leute seufzen und genervt gen Himmel blicken, wenn sie sie ruft. Sie
würde alles geben, um nicht an ihrer eigenen Stelle zu sein.“ Wenige Seiten
später, als Schlussakkord des Buches, stirbt diese Nini allein in ihrem
Heimbett – der Notklingel an ihrem Bett hatte jemand aus Entnervung den Stecker
gezogen.
De Peretti beschreibt einen Sonntag
unter vielen in einem Altenheim unter vielen mit den dazugehörigen Bewohnern,
Besuchern und Angestellten. Die Erzählung ist das Ergebnis gründlicher
Recherchen der Autorin in verschiedenen Seniorenheimen. Protagonisten wie
Geschichten und selbst die Farben beruhen auf realen Vorbildern. Sie selbst dient
als Vorbild der Camille, der ihre Liebe zur alten Nini vergangen ist, die sie früher
vergötterte. Es plagt sie das schlechte Gewissen, aber Ninis körperliche
Verfassung und ihr ständiges Gekeife und Herumkommandieren macht jeden Besuch
zu einer Qual, angesichts derer sie nur ans Fliehen denkt. An Fliehen denkt
auch der selbsternannte Kapitän Dreyfus, der nach einigen fehlgeschlagenen
Ausbruchsversuchen in erneuten Vorbereitungen steckt. Aber hier wie da gibt es
keine Fluchtmöglichkeit. Das Heim kennzeichnet nicht nur sein Geruch, die
Einsamkeit, die ständige Medikamentenzufuhr, die komplette Durchstrukturierung
der Tage, die Abgabe jeglicher Selbstbestimmung, die raffgierigen Familien, das
schlechte Gewissen, sondern auch seine Unentrinnbarkeit. Dreyfus wird immer
wieder aufs Neue erwischt und zurückgeholt.
Und was Camille angeht, sie kann
nur hingehen und es furchtbar finden oder nicht hingehen und sich selbst
furchtbar finden. Somit steckt in Wir
werden zusammen alt auch eine absurde, vollkommen nachvollziehbare Kritik
am Altsein selbst. Obwohl viele Protagonisten ihre Großmütter, Mütter oder
alten Bekannten lieben, – oder sie wenigstens lieben wollen – es scheint
unmöglich ihnen das zu geben, was sie brauchen, will man nicht sein eigenes
Leben aufgeben. Der Raum verengt sich mit dem Altwerden. Man kann immer weniger
weit gehen. Die Augen werden beim Lesen immer schneller müde. Der Körper hält mit
dem Wunsch nach Leben nicht mehr Schritt. Die Erinnerungen, die sich im Laufe
des Lebens angesammelt haben, finden keine Entsprechung mehr im jetzigen Leben.
Wenn man jemanden hat, dem man sie erzählen kann, ist das viel.
Vor wenigen Jahren erst sind während
der ungewöhnlichen Hitzewelle 2003 in Frankreich über 10.000 Menschen gestorben
– die meisten von ihnen Senioren, über die Hälfte in Heimen untergebracht. Im
Anschluss schoben sich Bevölkerung und Regierung auf unterhaltsame Weise die
Schuld in die Schuhe und beschuldigten sich gegenseitig grober
Vernachlässigung. In der Tat starben viele Alte von ihrer Familie unbemerkt und
einsam zuhause. In der Tat hatte die französische Regierung über Jahre hinweg
am Pflege- und Gesundheitssystem derart gespart, dass die Altenheime in
erbärmlichem Zustand waren – mancherorts kam eine Pflegeperson auf siebzig
Pflegebedürftige. Eine Kritik am gesellschaftlichen Umgang mit alten Menschen ist
also durchaus angebracht. De Peretti hat diese für ihren Roman aber nicht im
Sinn. Die wirklich erbärmlichen Umstände des Heimlebens lässt sie tatsächlich außen
vor, sagt sie, wie beispielsweise die Tatsache, dass nach ungefähr sechs Wochen
im Heim, 80% der Bewohner Windeln tragen, obwohl zuvor ebenso viele nicht
inkontinent waren. Der Autorin geht es um die Darstellung alter Menschen. Die
Darstellung schafft es aber leider über weite Strecken nicht, die Charaktere mit
Leben zu füllen und dem Leser nahe zu bringen. Man versteht, was im Heim
passiert – dabei handelt es sich ja nicht um neue Einsichten – aber es berührt
nicht.
Was Andreas Dresen 2008 in seinem
Film „Wolke 9“ hervorragend gelungen ist, nämlich darzustellen, dass zwei alte
Menschen, die sich verlieben, sich genauso verlieben und miteinander ins Bett
gehen, wie junge auch, gelingt Camille de Peretti nur bedingt. Zu Anfang des
Romans erscheinen die Alten vielmehr allzu oft wie „alte Kinder“, die ernst zu nehmen
schwer fällt und die vor allem „anders“ sind. Ihr Getratsche, ihr Buhlen um
Zuneigung ist jedoch kein Charakteristikum hohen Alters, sondern existiert – so
unangenehm mancher das finden mag – bei Personen jeden Alters und tritt
natürlich geballt auf, sobald man geballt zusammengepfercht leben muss.
Während die Thematik auch Grund
und Stoff für einen finsteren, gar sarkastischen Roman geboten hätte, bewegt
sich de Perettis Erzählung leicht und gewissermaßen unverfänglich an der
Oberfläche der Geschehnisse und Figuren – von den wenigen Ausnahmen gegen Ende
abgesehen, die einem nahe gehen, bei denen es um erlebte Vergewaltigung in der
Familie, den missglückten Ausbruchversuch von Dreyfus und den Tod Ninis geht.
De Perettis einfache und humoristische
Sprache rettet den Roman nicht vor seiner schlussendlichen Belanglosigkeit. Auch
das Formexperiment, das sich die Autorin, geprägt von ihrer eigenen Lektüre und
gewissermaßen als Hommage an George Pérec von diesem entleiht, bleibt in dieser
Variante banal. Wie Pérec, der Oulipo-Schriftsteller,
der sich im Versuch, die Literatur Mathematik werden zu lassen, immer wieder
neue Auflagen für sein Schreiben gesetzt hat, folgt de Peretti einem mathematischen
Schema, um ihre Erzählung zu konstruieren. Einen seiner Romane schrieb Pérec
ohne ein einziges E zu verwenden, einen anderen wiederum mit E als einzigem
Vokal. De Peretti hat sich Das Leben.
Gebrauchsanweisung zum Vorbild genommen, das Altenheim schachbrettartig in
64 Felder geteilt, um sich dann nach einem komplizierten – in ihrem Fall von
einem Computer ausgerechneten – Muster im Modus des Springers eines
Schachspiels von einem Zimmer zum nächsten vorzuarbeiten. Dass sie dies tut,
fällt im Verlauf des Lesens keinesfalls auf, und der Witz der literarischen
Herausforderung gebührt nun mal deren Erfinder.