25. Januar 2011

Sommergäste auf dem Weg zum Winterball

Wir haben die Fahnen des neuen Buchs von Peter Stamm bekommen. Mein erstes. Ungewohnt. Aber eh nicht so schlecht! Die Frage ist: wo ist eigentlich mehr Leben?

Im Hotel im Wald war früher Winterball, bevor es zum zweiten Mal Pleite machte. Ein altes Schild zeugt noch davon. Die mysteriöse Ana der Kurzgeschichte Sommergäste empfängt einen Literaturwissenschaftler im nun verlassenen Hotel in der Einöde, lässt ihn bezahlen, konfrontiert ihn mit täglich kalten Dosenravioli und einem Haus ohne Strom und Wasser. „Sie bekommen so viel mehr“, sagt sie – und er bleibt, ohne zu verstehen warum. „Früher haben alle so gelebt. Da fragte man nicht nach dem Warum. Alles war nur das, was es war. Nahrung war Nahrung, Schlaf war Schlaf, Wärme war Wärme“, sagt Anja, die seltsame Frau aus Im Wald. Mit sechzehn Jahren hat sie ihr Elternhaus verlassen, um fortan drei Jahre lang im Wald zu wohnen.
Auf den ersten Blick erzählt Peter Stamm in seinem neuen Buch Seerücken zehn sehr unterschiedliche Geschichten, in denen eben so unterschiedliche Charaktere auftauchen. Dennoch lassen sich an vielen Stellen Verbindungen ziehen, Vieles bekommt im Rückblick übergreifende Bedeutung und genau darin liegt der besondere Reiz dieser Kurzgeschichten.

Der Wald etwa spielt bei Peter Stamm immer wieder eine Rolle. Mehr als bloß Zeichen einer Region – dem sehr ländlichen und titelgebenden schweizerischen Seerücken – steht der Wald hier sinnbildlich für eine andere Art zu leben, für das Auflösen von Selbstverständlichkeiten, die Umwertung bestimmter Lebensinhalte. Nicht umsonst heißt die vierte Kurzgeschichte des Bandes Im Wald und steht ihr ein Zitat aus Henry Thoreaus Walden vor, in dem dieser seinen Versuch beschreibt, jenseits der industrialisierten Massengesellschaft der USA in einer Hütte im Wald zu leben. „Wenn er nämlich wahrhaft gelebt hat, kann das nur in fernen Landen gewesen sein.“ – Alles deutet darauf hin, dass das andere Leben, das Mehr an Leben, um das es in diesen Kurzgeschichten immer wieder geht, nicht so einfach zu haben ist. Die Protagonisten sind gewissermaßen verloren oder auf der Suche. „Gleichgültige Aufmerksamkeit“ – das ist es, was Anja im Wald sucht und findet. Im Wald, wo es den Blick des Anderen nicht gibt und man unmittelbarer sein kann. Das Leben intensivieren. Im Augenblick sein, ohne Interpretation, ohne nach vorne oder nach hinten zu sehen. Man kann im Wald schneller gehen, weil man ohne Eile ist, sagt sie, während das Leben in Gesellschaft – zumindest für Einige – wie ein Albtraum funktioniert: man versucht verzweifelt jemanden oder etwas zu erreichen und kommt, wie von unsichtbaren Fesseln gehalten, kaum vom Fleck.

Bücher können solche Fesseln sein. Immer wieder stehen sie der Aufmerksamkeit für das Leben, um die es im gesamten Band geht, im Weg. Anja wäre lieber, Erwin würde einfach anders leben, anstatt ihr aus Nietzsche oder „Der Kunst des Liebens“ zu zitieren – aber nicht einmal seine Gedanken kommen aus ihm selbst. Ana hingegen mockiert sich über die Arbeit des Literaturwissenschaftlers und fordert ihn auf, doch endlich sein eigenes Verhältnis zu den Frauen zu hinterfragen, anstatt sich mit den Frauen in einem alten russischen Theaterstück zu beschäftigen. Im Allgemeinen hat sie für seinen intellektuellen Lebensstil vor allem Verachtung übrig. Seine Bemerkung, er könne ohne Strom nicht arbeiten (der Akku seines Laptops ist leer und Strom gibt es im Hotel ja nicht), quittiert sie mit einem verächtlichen Blick – vom Erzähler lakonisch komisch wiedergegeben: „Sie schaute mich an, wie einen Schwächling.“

Auch das langjährige, bereits im Zustand der Grundgereiztheit angelangte und eingerichtete Paar Alice und Niklaus liest viel, im Italienurlaub in Der Lauf der Dinge. Im Weiteren besteht das Leben von Alice offenbar darin, sich über die anderen zu echauffieren. Hier: die Touristen. Sie machen Dreck, sie reden Deutsch, sie lösen Sudokus (anstatt zu lesen!), sie vernachlässigen ihre Kinder – kurz: sie sind prollig. Stamm beschreibt das – bis hin zum Baywatch-T-Shirt – wunderbar in Abziehbildern, doch ohne plump zu sein, sodass man überzeugt ist und verunsichert zugleich. Alice aktiviert diese Bilder ein ums andere Mal, um sich von denen abzugrenzen, die nur nach Italien „kommen, weil die anderen kommen.“ Auch wenn sie längst weg sind, richtet sie sich noch an ihnen aus – „Ich muss dauernd an sie denken, sagte Alice, der Lärm hat mich fast weniger gestört. Dem konnte man wenigstens ausweichen.“ – von ihrem eigenen Leben hat sie sich dabei bereits in distanzierte Ironie verabschiedet. Erst ein schlimmer Unfall auf Seite der Touristen bringt sie aus der Ruhe und somit auch einen neuen Impuls des Lebens mit sich.
Ist im Leben der Anderen mehr als in der leeren Distinktionsgeste von Alice? Lebt man drinnen intensiver oder draußen? Oder: Was ist das wahrhafte Leben überhaupt?

Stamm stellt diese Fragen, indem er fremde Welten aufeinander treffen lässt. Diese sind stets schwer zu versöhnen. Anja und die „normale Welt“, in die sie nach drei Jahren im Wald zurückkehrt, verstehen sich nicht einmal, beschuldigen sich stattdessen gegenseitig des Mangels an Leben, der Lebensunfähigkeit. Während Anjas Flucht in den Wald anfangs als Rückkehr zu sich selbst durchaus nachvollziehbar ist, häufen sich im Laufe der Geschichte die Depressionsklischees und man beginnt sich zu fragen, auf wessen Seite man hier steht. Anja glaubt die anderen seien „nicht normal“. Die Normalen halten sie für „verrückt“. Darf Anja Freunde und Familie als Zeitverschwendung behandeln? Und dürfte sie als gesunde junge Frau dem Tod, der ihr in Gestalt eines mysteriösen Jägers begegnet, derart gelassen gegenüber stehen?

Nach dem ersten Lesen lassen einen Stamms Kurzgeschichten durchaus perplex zurück. Sie enden abrupt und selbst die Frage, die doch überall steckt, bleibt manchmal seltsam unklar. Aber lässt man sich durch die Seltsamkeit und die mysteriöse Stimmung, die herrschen, locken, dann wird man aufmerksamer, schaut noch einmal genauer hin und entdeckt, wie hier ein Thema immer wieder variiert wird. Wo ist eigentlich mehr Leben? Diese Variation inszeniert Stamm auf erstaunliche Weise und sie gewinnt an Faszination durch die entspannte Art seines Schreibens. Stamm beobachtet sehr genau, vor allem die kleinen Nebensachen, die in seinem Schreiben relevant werden – das Zögern; die kleine Überlänge eines Lachens; die Verspätung einer Handbewegung. Die Unklarheit, die sich in den Geschichten breit macht, ist durch die klare, einfache Sprache in der er erzählt umso beunruhigender. Stamm verhandelt Normalitäten und dabei wird man selbst immer wieder mit den eigenen Positionen konfrontiert. Fragen werden in Seerücken aufgeworfen, nicht aufgelöst – und sie wirken nach.

7. Januar 2011

die Worte und die Dinge

"Die Worte und die Dinge", "Les mots et les choses" - das ist der Titel, den Foucaults "Die Ordnung der Dinge" im Französischen trägt (weil der französische Verlag auf den von Foucault eigentlich gewünschten Titel, der dann aber für die deutsche Ausgabe genommen wurde, nicht eingehen wollte).

Anders als der deutsche Titel, der den Schwerpunkt darauf setzt, dass unser Wissen und somit unsere Ordnung der Dinge immer zeit- und ortsgebunden sind und somit einem Wandel unterliegen, legt der französische Titel das Gewicht darauf, dass erst in der Verbindung von Wort und Ding unsere Begriffe entstehen, unser Wissen, unsere Welt.