6. April 2011

Der Heimatfilm als Thriller und Poesie

Im Kino gewesen. Und den amerikanischen Mittleren Westen angesehen. Unglaublich, dass mich die Vereinigten Staaten Amerikas lange Zeit nicht interessiert haben.

Debra Granik hat mit dem preisgekrönten Independentfilm Winter’s Bone eine düstere poetische Hymne auf eine weltvergessene und von der Welt vergessene Region im Mittleren Westen der USA gedreht :

Der Film Winter’s Bone ist eine Erzählung aus der kargen, gottverlassenen und doch märchenhaften Hügellandschaft der Ozarks – einem Hochlandplateau, das den südlichen Teil Missouris im Mittleren Westen der USA einnimmt. Bewohner haben sich hier eine eigene Ordnung aus patriarchaler Gewalt, Clan-Rangfolge, Korruption und Drogen geschaffen, der sich auch die Staatsmacht nicht entzieht. Ein junges Mädchen stellt sich dieser Welt erbittert und wild entschlossen entgegen, um ihre Familie zu retten. Winter’s Bone – schaurig schön und brutal – zeigt somit ein Pendant zur Großstadthölle: die düstere kriminelle Seite der amerikanischen Einöde.

„Ich bin eine Dolly“, raunzt Ree den Sheriff an, als sei das selbstverständlich eine Erklärung für alles und Auszeichnung zugleich, blickt ihm dabei mit ihren starken blauen Augen direkt ins Gesicht. Die 17jährige Ree Dolly (wunderbar gespielt von der für einen Oscar nominierten Jennifer Lawrence) ist stolz auf ihre Herkunft, auch wenn sich die weiten Familienbande im Laufe des Films als durchaus belastete Verhältnisse erweisen. Als sie sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Vater Jessup begibt, spannen die Mitglieder ihres Clans – ausgestattet mit Ganovennamen wie Little Arthur oder Teardrop (John Hawkes, auch großartig und ebenfalls oscarnominiert) – ein Netz aus Drohungen, Brutalität und Schweigen. Ree ergibt sich nicht, sondern sucht weiter. Jessup hat Haus und Land der Familie als Kaution gesetzt, um einem erneuten Gefängnisaufenthalt wegen der Herstellung von Drogen zu entgehen. Findet sie ihn nicht, enden sie, ihre zwei jüngeren Geschwister Sonny und Ashlee und ihre Mutter, die – wie passend – nicht mehr spricht und sich offenbar vor der Härte des Lebens mit ihrem Mann in die Verrücktheit zurückgezogen hat, obdachlos im Wald.

Eine weitere Hauptrolle neben Jennifer Lawrence spielt in Winter’s Bone die Musik. Die Musik der Ozarks läuft im Radio der Dollys oder wird zur Familienfeier live gespielt. Sie rahmt den Film und betont so dessen poetische Tiefe. In der Anfangsszene singt Marideth Sisco (die auch in einer Szene zu sehen ist) mit rauher und sanfter Stimme zum Zirpen der Grillen Missouri Waltz, die Hymne von Missouri – ein Wiegenlied! –, während die beiden Kinder Sonny und Ashlee dazu in Slowmotion Trampolin springen. Way down in Missouri where I heard this melody; when I was just a  little baby on my Mommy's knee; The old folks were hummin'; their banjos were strummin'; So sweet and low. Und auch der Schluss spielt vor dem Haus der Dollys. Ree sitzt mit einem Kind auf jeder Seite auf den Verandastufen und Ashlee schrummt auf dem übriggebliebenen Banjo des Vaters ein paar unausgesuchte zarte Töne.
In diesen Klang-Rahmen fügt sich die düstere Erzählung wie ein böser Traum – voll brutaler Machenschaften und bösartiger Blicke (die Augen und Blicke der Darsteller sind allein schon den Kinobesuch wert!) –, wie eine der traditionellen Geschichten, die man sich in den Ozarks seit jeher erzählt. Lassen einen die Bilder der einsamen Landschaften und ärmlichen heruntergekommenen Häuser zuerst in melancholische Stimmung verfallen, wendet eine der großen Szenen den Film unerwartet hin zum Thriller und schlägt somit ein anderes Tempo an. Rees Leben ist plötzlich bedroht. In dieser Welt, die die Einwohner der Gegend in einem sehenswerten Interview mit der Filmemacherin als eine Art Drittweltland bezeichnen – isoliert, geprägt von Armut und vom steten Kampf mit den harten Lebensbedingungen – ist Ree der lebendige Widerstand. Die Heldin, die die begrenzten Möglichkeiten zwischen Babys und Reserveoffizier-Ausbildungskorps, zwischen Waldwirtschaft, Rinderzucht und Drogensumpf auslotet.

Vielleicht liegt es am Autor Daniel Woodrell, der die Drehbuchvorlage lieferte und die Regisseurin Debra Granik bei der Auswahl ihrer Drehorte beriet, vielleicht daran, dass etliche Darsteller, unter denen auch Amateure sind, tatsächlich in Südmissouri leben, möglicherweise ist es die traditionelle Musik, die den Film stets begleitet, die wunderschönen Aufnahmen – dieser Thriller ist, trotz oder vielmehr mit seiner stets impliziten Gesellschaftskritik, auf ganz besondere Weise ein Heimatfilm geworden, das poetische Portrait einer Region.