Im Hotel im Wald war früher
Winterball, bevor es zum zweiten Mal Pleite machte. Ein altes Schild zeugt noch
davon. Die mysteriöse Ana der Kurzgeschichte Sommergäste empfängt einen Literaturwissenschaftler im nun
verlassenen Hotel in der Einöde, lässt ihn bezahlen, konfrontiert ihn mit
täglich kalten Dosenravioli und einem Haus ohne Strom und Wasser. „Sie bekommen
so viel mehr“, sagt sie – und er bleibt, ohne zu verstehen warum. „Früher haben
alle so gelebt. Da fragte man nicht nach dem Warum. Alles war nur das, was es
war. Nahrung war Nahrung, Schlaf war Schlaf, Wärme war Wärme“, sagt Anja, die
seltsame Frau aus Im Wald. Mit
sechzehn Jahren hat sie ihr Elternhaus verlassen, um fortan drei Jahre lang im
Wald zu wohnen.
Auf den ersten Blick erzählt
Peter Stamm in seinem neuen Buch Seerücken
zehn sehr unterschiedliche Geschichten, in denen eben so unterschiedliche
Charaktere auftauchen. Dennoch lassen sich an vielen Stellen Verbindungen
ziehen, Vieles bekommt im Rückblick übergreifende Bedeutung und genau darin
liegt der besondere Reiz dieser Kurzgeschichten.
Der Wald etwa spielt bei
Peter Stamm immer wieder eine Rolle. Mehr als bloß Zeichen einer Region – dem
sehr ländlichen und titelgebenden schweizerischen Seerücken – steht der Wald
hier sinnbildlich für eine andere Art zu leben, für das Auflösen von
Selbstverständlichkeiten, die Umwertung bestimmter Lebensinhalte. Nicht umsonst
heißt die vierte Kurzgeschichte des Bandes Im
Wald und steht ihr ein Zitat aus Henry Thoreaus Walden vor, in dem dieser seinen Versuch beschreibt, jenseits der
industrialisierten Massengesellschaft der USA in einer Hütte im Wald zu leben.
„Wenn er nämlich wahrhaft gelebt hat, kann das nur in fernen Landen gewesen
sein.“ – Alles deutet darauf hin, dass das andere Leben, das Mehr an Leben, um
das es in diesen Kurzgeschichten immer wieder geht, nicht so einfach zu haben
ist. Die Protagonisten sind gewissermaßen verloren oder auf der Suche.
„Gleichgültige Aufmerksamkeit“ – das ist es, was Anja im Wald sucht und findet.
Im Wald, wo es den Blick des Anderen nicht gibt und man unmittelbarer sein kann. Das Leben intensivieren. Im
Augenblick sein, ohne Interpretation, ohne nach vorne oder nach hinten zu
sehen. Man kann im Wald schneller gehen, weil man ohne Eile ist, sagt sie,
während das Leben in Gesellschaft – zumindest für Einige – wie ein Albtraum
funktioniert: man versucht verzweifelt jemanden oder etwas zu erreichen und
kommt, wie von unsichtbaren Fesseln gehalten, kaum vom Fleck.
Bücher können solche Fesseln
sein. Immer wieder stehen sie der Aufmerksamkeit für das Leben, um die es im
gesamten Band geht, im Weg. Anja wäre lieber, Erwin würde einfach anders leben,
anstatt ihr aus Nietzsche oder „Der Kunst des Liebens“ zu zitieren – aber nicht
einmal seine Gedanken kommen aus ihm selbst. Ana hingegen mockiert sich über
die Arbeit des Literaturwissenschaftlers und fordert ihn auf, doch endlich sein
eigenes Verhältnis zu den Frauen zu hinterfragen, anstatt sich mit den Frauen
in einem alten russischen Theaterstück zu beschäftigen. Im Allgemeinen hat sie
für seinen intellektuellen Lebensstil vor allem Verachtung übrig. Seine
Bemerkung, er könne ohne Strom nicht arbeiten (der Akku seines Laptops ist leer
und Strom gibt es im Hotel ja nicht), quittiert sie mit einem verächtlichen
Blick – vom Erzähler lakonisch komisch wiedergegeben: „Sie schaute mich an, wie
einen Schwächling.“
Auch das langjährige,
bereits im Zustand der Grundgereiztheit angelangte und eingerichtete Paar Alice
und Niklaus liest viel, im Italienurlaub in Der
Lauf der Dinge. Im Weiteren besteht das Leben von Alice offenbar darin,
sich über die anderen zu echauffieren. Hier: die Touristen. Sie machen Dreck,
sie reden Deutsch, sie lösen Sudokus (anstatt zu lesen!), sie vernachlässigen
ihre Kinder – kurz: sie sind prollig. Stamm beschreibt das – bis hin zum
Baywatch-T-Shirt – wunderbar in Abziehbildern, doch ohne plump zu sein, sodass
man überzeugt ist und verunsichert zugleich. Alice aktiviert diese Bilder ein
ums andere Mal, um sich von denen abzugrenzen, die nur nach Italien „kommen,
weil die anderen kommen.“ Auch wenn sie längst weg sind, richtet sie sich noch
an ihnen aus – „Ich muss dauernd an sie denken, sagte Alice, der Lärm hat mich
fast weniger gestört. Dem konnte man wenigstens ausweichen.“ – von ihrem
eigenen Leben hat sie sich dabei bereits in distanzierte Ironie verabschiedet.
Erst ein schlimmer Unfall auf Seite der Touristen bringt sie aus der Ruhe und
somit auch einen neuen Impuls des Lebens mit sich.
Ist im Leben der Anderen
mehr als in der leeren Distinktionsgeste von Alice? Lebt man drinnen intensiver
oder draußen? Oder: Was ist das wahrhafte Leben überhaupt?
Stamm stellt diese Fragen,
indem er fremde Welten aufeinander treffen lässt. Diese sind stets schwer zu
versöhnen. Anja und die „normale Welt“, in die sie nach drei Jahren im Wald
zurückkehrt, verstehen sich nicht einmal, beschuldigen sich stattdessen
gegenseitig des Mangels an Leben, der Lebensunfähigkeit. Während Anjas Flucht
in den Wald anfangs als Rückkehr zu sich selbst durchaus nachvollziehbar ist,
häufen sich im Laufe der Geschichte die Depressionsklischees und man beginnt
sich zu fragen, auf wessen Seite man hier steht. Anja glaubt die anderen seien
„nicht normal“. Die Normalen halten sie für „verrückt“. Darf Anja Freunde und
Familie als Zeitverschwendung behandeln? Und dürfte sie als gesunde junge Frau
dem Tod, der ihr in Gestalt eines mysteriösen Jägers begegnet, derart gelassen
gegenüber stehen?
Nach dem ersten Lesen lassen
einen Stamms Kurzgeschichten durchaus perplex zurück. Sie enden abrupt und
selbst die Frage, die doch überall steckt, bleibt manchmal seltsam unklar. Aber
lässt man sich durch die Seltsamkeit und die mysteriöse Stimmung, die
herrschen, locken, dann wird man aufmerksamer, schaut noch einmal genauer hin
und entdeckt, wie hier ein Thema immer wieder variiert wird. Wo ist eigentlich
mehr Leben? Diese Variation inszeniert Stamm auf erstaunliche Weise und sie
gewinnt an Faszination durch die entspannte Art seines Schreibens. Stamm
beobachtet sehr genau, vor allem die kleinen Nebensachen, die in seinem
Schreiben relevant werden – das Zögern; die kleine Überlänge eines Lachens; die
Verspätung einer Handbewegung. Die Unklarheit, die sich in den Geschichten
breit macht, ist durch die klare, einfache Sprache in der er erzählt umso
beunruhigender. Stamm verhandelt Normalitäten und dabei wird man selbst immer
wieder mit den eigenen Positionen konfrontiert. Fragen werden in Seerücken aufgeworfen, nicht aufgelöst –
und sie wirken nach.
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